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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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gelassen. Nur manchmal hatten sie eine oder zwei Stunden für sich gehabt, nach den Besichtigungen und Museumsbesuchen und vor dem Abendessen. Dann war Andreas allein losgezogen, hatte das Viertel in immer weiteren Kreisen erkundet.
    Er konnte sich an das seltene Glück erinnern, in einem Bistro zu stehen zwischen den Männern, die einen Aperitif tranken, bevor sie nach Hause gingen,
den Jugendlichen zuzusehen, die Flipper spielten, den Frauen, die mit gehetzten Schritten vor den großen Fenstern vorübergingen. Andreas hatte sich nie wieder so frei gefühlt.
    Er holte die Straßenkarte aus dem Wagen. Im Zimmer schaute er nach, wie sie morgen fahren mussten. Delphine war im Bad verschwunden. Er versuchte sich vorzustellen, sie sei seine Frau, sie seien frisch verheiratet und auf der Hochzeitsreise. Die Vorstellung erregte und beruhigte ihn zugleich.
    Delphine kam in einem kurzen Nachthemd aus geblümtem Frotteestoff aus dem Bad und stieg ins Bett. Andreas zog sich aus, löschte das Licht und legte sich neben sie. Als er seine Hand auf ihren Oberschenkel legte, sagte sie, sie hole ein Kondom. Er hielt sie fest. Und was, wenn ich schwanger werde, fragte sie. Er antwortete nicht. Sie schliefen im Dunkeln miteinander, heftiger als sonst und ohne ein Wort zu wechseln. Dann schaltete Delphine die Nachttischlampe ein und ging ins Bad. Andreas hörte Wasser laufen und die Toilettenspülung und dann noch einmal Wasser. Als Delphine endlich zurückkam, sagte er, sie müssten aufpassen, sich nicht ineinander zu verlieben. Delphine warf sich auf ihn, und sie rangen miteinander. Sie setzte sich auf seinen Bauch und packte seine Handgelenke und drückte sie auf die Matratze.
    »Du bist ein verdammter Idiot«, sagte sie.
    Er wollte etwas sagen, aber sie küsste ihn auf den Mund und biss ihn in die Lippen, bis er sich losmachte, sie auf den Rücken warf und festhielt.
    »Hör auf«, sagte er, »du tust mir weh.«
    Sie versuchte, sich loszumachen, aber es gelang ihr nicht. Sie atmete heftig und sagte noch einmal, er sei ein Idiot.
    »Es reicht«, sagte Andreas, »es ist gut.«
     
    Am nächsten Mittag überquerten sie die Grenze zur Schweiz. Delphine hatte während der ganzen Fahrt von ihrer Kindheit und Jugend erzählt, von den Gendarmeriekasernen, in denen sie aufgewachsen war. Sie habe immer in engen Verhältnissen gelebt, mit vielen anderen Familien mit Kindern. Es sei wie eine große Wohngemeinschaft gewesen. Alle Väter hätten denselben Beruf gehabt, und die Mütter hätten sich tagsüber in ihren Wohnungen besucht und Kaffee getrunken und geschwatzt. Als Andreas sie fragte, ob es eine glückliche Kindheit gewesen sei, zögerte sie.
    »Manchmal glücklich, manchmal nicht. Umziehen war immer schlimm. Die Freunde zu verlieren. Nur manchmal hat man sich wieder getroffen, Jahre später, in einer anderen Kaserne.«
    Am schönsten seien die Sommerferien gewesen, drei oder vier Wochen am Atlantik.
    »Das war das Paradies. Es waren immer dieselben Leute da. Das Jahr über hat man nichts voneinander gehört, aber wenn man hinkam, waren alle wieder da. Wir waren wie Geschwister, sind im Meer geschwommen und haben gespielt am Strand. Die Sommer schienen kein Ende zu nehmen. Am Abend gab es Feste, man hat getanzt, gegessen, getrunken. Alle zusammen. Manchmal gab es ein Feuerwerk.«
    Einmal hatte es einen Waldbrand gegeben, da sei sie
vielleicht zehn gewesen. Das Feuer sei bis auf wenige Kilometer an den Campingplatz herangekommen, aber sie habe keine Angst gehabt.
    »Man nahm an, dass es Brandstiftung war. Es wurde tagelang von nichts anderem gesprochen. Aber ich weiß noch, wie ich dachte, uns kann nichts geschehen. Uns findet niemand hier.«
    Auf dem Campingplatz hatte Delphine schwimmen gelernt und surfen, hier hatte sie sich zum ersten Mal verliebt. Die Geschichte hatte nicht länger gedauert als der Sommer.
    »Wir haben uns nachts in den Dünen getroffen. Er war ungeschickt, und ich hatte auch nicht viel Ahnung. Eigentlich war es ziemlich schrecklich, der Sand überall und die Angst, erwischt zu werden. Danach war es nicht mehr dasselbe. Alle hatten plötzlich einen Freund oder eine Freundin, und unsere Bande ist auseinander gefallen. In einem Jahr bin ich gar nicht hingefahren. Da bin ich durch Europa getrampt mit einer Freundin. Aber seither war ich wieder jedes Jahr da. Wenn es nur für ein paar Tage ist. Die alten Freunde kommen immer noch. Einige sind selbst Gendarmen geworden, haben geheiratet, Kinder gekriegt, die miteinander

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