An einem Tag wie diesem
schaute ihn überrascht an, dann erklärte er, er habe gemeint, der Parkplatz sei im Zimmerpreis inbegriffen. Andreas übersetzte. Der Portier sagte, der Platz in der Tiefgarage müsse separat bezahlt werden. Es ging um keinen sehr hohen Betrag, aber der Vater schien nicht mit dieser zusätzlichen Ausgabe gerechnet zu haben. Die Familie sah ärmlich aus, vermutlich hatten sie knapp kalkuliert und vielleicht mehr Geld ausgegeben, als sie geplant hatten.
Die Frau sagte ein paar Mal, das müssten sie sich nicht gefallen lassen. Sie schaute ihren Mann missbilligend an, als sei er schuld an der Verwirrung. Einen Moment lang dachte Andreas daran, der Familie den Betrag zu schenken, aber er wusste, es hätte nichts geändert.
Das Zimmer war klein, und man merkte, dass bei der Einrichtung wo immer möglich gespart worden war. Es gab eine Toilette, aber kein Bad. Die Tür der Duschkabine war aus Glas und öffnete sich direkt ins Zimmer, das Waschbecken war daneben an der Wand angebracht. Über dem Kopfende des Doppelbettes war eine schmale Pritsche für eine dritte Person.
Andreas stellte sich vor, wie die deutsche Familie in einem solchen Zimmer übernachtet hatte, die Eltern unten, der Junge oben auf der Pritsche. Er stellte sich vor, wie sie am Morgen duschten, die Enge und die Nacktheit, die Scham des Jungen, wenn er sein Gesicht mit einem Aknemittel betupfte und nicht wie zu Hause die Badezimmertür abschließen konnte. Er stellte sich vor, wie sie durch Paris gingen, auf der Suche nach der Schönheit der Stadt, und er fragte sich, ob sie sie gefunden hatten. Die Füße taten ihnen weh, und am Mittag aßen sie in einem Restaurant mit deutscher Speisekarte und wurden vom Kellner übers Ohr gehauen. Dann gab es Streit, weil die Eltern in ein Museum wollten und der Junge nicht. Und wenn sie ihn fragten, was er denn sehen wolle, konnte er es nicht sagen.
Andreas war froh, dem allem entgangen zu sein. Er war froh, nie eine Familie gehabt zu haben. Er hatte genug mitbekommen, wenn seine Schüler nach der Stunde zu ihm gekommen waren und ihm von ihren Problemen erzählt hatten, wenn er die Eltern anrief und versuchte zu vermitteln. Ein- oder zweimal hatte sogar einer seiner Schüler bei ihm auf dem Sofa übernachtet, wenn es zu Hause gar nicht mehr ging.
Er stand am Fenster und schaute hinaus auf die vielspurige Autobahn. Die Fenster des Zimmers ließen sich nicht öffnen. Sie waren schalldicht, nur manchmal hörte man das gedämpfte Geräusch einer Hupe oder eines besonders lauten Motors.
Andreas hatte das Zimmer seit dem Mittag nicht verlassen. Er hatte stundenlang aus dem Fenster geschaut auf die Autos, die einmal dichter, dann weniger dicht fuhren, die sich gegen Abend stauten, still standen und sich dann langsam wieder in Bewegung setzten. Jetzt hatten die Fahrer die Scheinwerfer eingeschaltet. Es wurde Nacht. Sie fahren immer so weiter, dachte er, der Verkehr lässt nie nach. Er dachte an seinen Tod, er versuchte, daran zu denken. Aber sein Leben war so ereignislos gewesen, dass er sich seinen Tod nicht vorstellen konnte. Er sah sich nur immer in einem Krankenhaus liegen. Und dann wieder die Straße, die unzähligen Autos.
Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm ja auch keines fehlet.
Die Sterne, die Sandkörner, die Schafe seiner Herde. Schon als Kind hatte Andreas nicht daran geglaubt.
Die Angst war kein Gedanke. Sie schien von außerhalb zu kommen. Wenn Andreas an die Krankheit dachte, hatte er keine Angst. Dann war er verzweifelt, verwirrt, haderte mit sich, machte sich Vorwürfe. Die Angst hingegen kam plötzlich und ohne Vorwarnung. Es war, als verdunkelten sich seine Gedanken. Die Angst nahm ihm den Atem, drückte seinen Körper zusammen, bis er zu explodieren schien und sich auflöste in eine feine Gischt, in Millionen, Milliarden feinster Tropfen, die durch die Leere wirbelten.
Am Morgen roch das ganze Hotel nach Desinfektionsmittel. Zum Frühstück gab es Kaffee in Plastiktassen, das Brot war weich und der Orangensaft mit Wasser verdünnt.
Andreas trat aus dem Hotel. Der Himmel war grau, aber es war nicht kalt. Er spazierte durch das Viertel. Seit er in Paris wohnte, war er nie hier draußen gewesen. Er war jeden Tag durch Saint-Denis gefahren, aber er hatte nur immer aus dem Zugfenster die riesigen Wohnüberbauungen gesehen und dazwischen Straßen mit Einfamilienhäuschen in winzigen Gärten und weiter draußen, beim Stade de France, die neuen Geschäftshäuser, die in den letzten Jahren aus dem
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