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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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früh auf, duschte und packte seine Sachen. Dann rief er Delphine an und fragte, ob sie sich sehen könnten. Sie fragte, wo er sei. Ihre Stimme klang verschlafen. Er sagte, er könne in einer Stunde bei ihr sein. Im Bus nach Deuil schrieb er eine SMS an Sylvie. Sie hatte ihm am Vortag eine Nachricht geschickt und in ihrem Telegrammstil gefragt, wie es ihm gehe und was er mache. Er hatte nicht geantwortet. Jetzt schrieb er, es gehe ihm gut, er wünsche ihr einen schönen Sommer. Kaum hatte er die Nachricht abgeschickt, bekam er schon die Antwort. Sylvie wünschte schöne Ferien und schrieb, sie umarme ihn.
    Um halb zehn stand Andreas vor dem Haus Delphines. Nachdem er geklingelt hatte, dauerte es einen Moment, dann summte der Türöffner. Im Hof schaute Andreas nach oben, aber er wusste nicht mehr, welches Fenster zu Delphines Zimmer gehörte. Langsam stieg er die Treppe hoch. Als er im dritten Stock war, hörte er, wie sich oben eine Tür öffnete. Delphine stand im
Flur. Sie war im Nachthemd, aber das schien sie nicht zu kümmern.
    »Was willst du?«, fragte sie. Ihr Gesicht war ernst, aber nicht unfreundlich.
    »Du hast deine Zahnbürste bei mir vergessen.«
    »Das ist nicht witzig.«
    »Es tut mir leid«, sagte Andreas, »was ich gesagt habe.«
    »Und dann ist alles wieder gut?«
    Delphine schaute auf seinen Koffer. Sie lächelte und fragte, ob er bei ihr einziehen wolle. Andreas sagte, er müsse mit ihr reden. Delphine ließ ihn herein und ging voraus in die Küche. Er setzte sich, sie blieb stehen. Sie stand ganz nah vor ihm. Er streckte die Hände aus und fasste sie um die Taille. Durch den dünnen Jersey spürte er die Wärme ihres Körpers. Sie machte einen Schritt von ihm weg und sagte, sie werde schnell duschen und sich anziehen. Als sie gegangen war, nahm Andreas sich ein Glas Wasser und trank es in schnellen Schlucken.
    »Du sitzt da wie ein armer Sünder«, sagte Delphine, als sie zurückkam. Sie trug dasselbe Kleid, das sie bei ihrer letzten Begegnung angehabt hatte.
    »Wolltest du nicht ans Meer?«, fragte Andreas.
    »Ende der Woche«, sagte Delphine. »Aber ich bin noch nicht sicher, ob ich fahre. Meine Eltern nerven.«
    Eine Wohnung habe sie nicht gefunden, sagte sie, sie sei sich gar nicht mehr sicher, ob sie überhaupt nach Versailles wolle.
    »Letzte Woche habe ich die Prüfungsergebnisse bekommen. Ich habe bestanden. Jetzt habe ich bis zu
meiner Pensionierung eine Stelle sicher. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.«
    Andreas fragte, was sie denn sonst machen wolle. Delphine warf ihm einen gelangweilten Blick zu und sagte, das hätten sie ihre Eltern auch gefragt. Sie wisse es nicht. Sie fühle sich einfach zu jung dafür. Sie wolle etwas erleben.
    »Ich fahre in die Schweiz«, sagte Andreas. »Hast du Lust, mitzukommen?«
    Delphine schien weniger überrascht von der Frage als er selbst. Sie fragte, warum er nicht mit ihr ans Meer fahre. Er antwortete nicht. Sie überlegte einen Moment, dann sagte sie, o. k., sie komme mit. Sie sei noch nie in der Schweiz gewesen. Wann es losgehe?
    »Ich habe ein Auto gekauft«, sagte Andreas. »Heute kann ich es abholen.«
    Delphine sagte, sie müsse ein paar Sachen erledigen und einkaufen. Sie verabredeten sich für vier Uhr. Andreas sagte, er hole sie ab.
     
    Als Delphine den 2 CV sah, schlug sie vor, ihren Wagen zu nehmen. Andreas schüttelte den Kopf.
    »Mein bester Freund hatte einen 2 CV «, sagte er. »Als ich jung war, sind wir damit an die Weiher gefahren.«
    Sie fuhren auf der Autobahn um Paris herum. Die Sonne stand noch hoch, und die Stadt verschwand in einem milchigen Dunst. Der Himmel und die Häuser schienen von derselben Farbe zu sein, die sich nur in Schattierungen unterschied. Die Straßen waren verstopft vom Feierabendverkehr. Delphine hatte das
Dach geöffnet und das Radio eingeschaltet. Sie hörten einen Jazz-Sender, und Andreas versuchte, die Titel der Standards zu erraten, die gespielt wurden.
    »Als ich ziemlich neu war in Paris, habe ich Chet Baker im
New Morning
gesehen«, erzählte er. »Er war unglaublich dünn und hatte eingefallene Wangen. Er saß zusammengesunken auf einem Barhocker, die Trompete zwischen die Beine geklemmt. Dann fing er an zu singen, ganz leise und mit brüchiger Stimme. An das Stück kann ich mich nicht erinnern,
The Touch of Your Lips
oder
She Was Too Good to Me
, aber ich höre heute noch seine Stimme. Nach ein paar Takten bricht er plötzlich ab und macht eine unzufriedene Handbewegung, und die Musiker

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