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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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spielen. So ist das.«
    Sie fragte Andreas, wann er zum ersten Mal verliebt gewesen sei. Er sagte, das sei lange her, er erinnere sich kaum.
    »Wohin fahren wir überhaupt?«, fragte Delphine, als sie Basel hinter sich gelassen hatten.
    »In mein Dorf«, sagte Andreas. »In zwei Stunden sind wir dort.«
    »Und was machen wir da? Gibt es da irgendetwas zu sehen?«
    Andreas zuckte mit den Schultern. Die Landschaft sei ganz schön, sagte er.
    Je näher sie dem Dorf kamen, desto unsicherer wurde er, ob die Reise eine gute Idee gewesen war, ob es eine gute Idee gewesen war, Delphine mitzunehmen. Er wusste selbst nicht, was er vorhatte. Seinen Bruder besuchen, das Grab der Eltern, vielleicht Fabienne. Und dann? Nach dem Verkauf der Wohnung würde er Geld genug haben, um ein paar Jahre davon zu leben. Aber wollte er wirklich zurück in sein Dorf? Er dachte an die Fische, die an den Ort ihrer Geburt zurückkehren, um zu sterben. Oder gingen sie zurück, um zu laichen? Oder beides? Er wusste es nicht mehr.
    Und wenn Delphine wirklich schwanger war? Andreas war nie sehr vorsichtig gewesen, was die Verhütung anging. Lange Zeit hatte er gedacht, er sei unfruchtbar, bis Nadja ihm eines Tages sagte, sie habe ein Kind von ihm abgetrieben. Sie sagte es auf ihre gleichgültige Art, die sie nur ablegte, wenn sie über Politik sprach oder über ihren Exmann. Sie schien gar nicht daran gedacht zu haben, dass Andreas das Kind vielleicht haben wollte, und eigentlich war er froh, dass sie ihm die Entscheidung abgenommen hatte. Sie hatte, wenn er sich recht erinnerte, nicht von einem Kind gesprochen, sondern von einem Zustand. Was ihn damals deprimiert hatte, war nicht, dass dieses Kind nie geboren werden würde, es war die Tatsache, dass er es so leicht nahm. Er hatte den Gedanken, dass sein
Leben irgendwann eine Wendung nehmen könnte, längst aufgegeben. Irgendwann, vor langer Zeit, hatte er eine Richtung gewählt, einen Weg eingeschlagen, und es gab kein Zurück. Selbst jetzt, wo er alles aufgegeben hatte, war es ihm, als gebe es nur einen möglichen Weg. Er hatte nicht das Gefühl von Freiheit, das er als Jugendlicher gehabt hatte. Alles schien entschieden. Daran würde auch ein Kind nichts ändern. Er musste daran denken, was sein Arzt gesagt hatte, dass es keinen Sinn habe, von Chancen zu sprechen. Es gebe nur ein Entweder-oder. Menschen wurden geboren, Menschen starben. Es geschah, oder es geschah nicht. Im Grunde war es einerlei.
    Er schaute zu Delphine, die schweigend und mit geschlossenen Augen neben ihm saß. Er fragte sich, woran sie dachte, wovon sie träumte. Wovon hatte er geträumt in ihrem Alter? Er rechnete nach. Damals war er seit einem Jahr in Paris gewesen.
    Er verließ die Autobahn früher als nötig, und sie fuhren auf der Landstraße durch winzige Bauerndörfer, die nur aus ein paar Höfen bestanden, einem Restaurant und manchmal einer Kirche. Die Straße führte immer geradeaus durch das breite Tal. Nur selten kam ihnen ein Auto entgegen und einmal ein Junge auf einem Traktor, der eine Mähmaschine zog. Links und rechts der Straße waren Felder und Wiesen mit Apfelbäumen. Es war ein heißer Nachmittag. Andreas erinnerte sich gut an diese Nachmittage, die wie Feiertage waren, wenn die Hitze auf das Land drückte und die Luft heiß und unbeweglich war wie die Erde. Über allem lag ein heller Dunst, und die Schatten waren
blass. Selbst in den Wäldern war es dann still bis auf ein leises Knistern, als brenne ein Feuer.
    Sie überquerten den Fluss, der wenig Wasser führte. Er war vor langer Zeit begradigt worden und floss in einer Linie durch die Ebene. Andreas hielt an neben einer alten überdachten Holzbrücke.
    »Was ist?«, fragte Delphine.
    »Ich möchte mir die Beine ein wenig vertreten.«
    Als er ein Kind gewesen sei, habe die Landstraße noch über diese Brücke geführt, sagte er. Jetzt war sie für den Verkehr gesperrt. Sie gingen zu Fuß hinüber. Delphine nahm Andreas’ Hand, aber nach ein paar Schritten ließ sie sie wieder los.
    Auf der anderen Seite waren ein bewaldeter Abhang und ein verlassenes Gasthaus, das ehemalige Zollhaus. Nachdem die Brücke für den Verkehr gesperrt worden war, hatte ein kleiner Zirkus hier sein Winterquartier eingerichtet. Schuppen waren gebaut worden und Gehege für die Tiere. An der Straße standen ein halb verfallener Wohnwagen und rostige Podeste für eine Raubtiernummer. Das Gelände schien verlassen, nur aus einem großen Käfig direkt am Waldrand waren die Schreie

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