An einem Tag wie diesem
exotischer Vögel zu hören. Im Schatten der Bäume wuchsen Brennnesseln.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Delphine.
Andreas zeigte auf einen Hügel am Horizont.
»In einer Viertelstunde sind wir da. Da ist das Dorf.«
»Was hast du eigentlich vor?«
»Ich war zehn Jahre lang nicht hier. Mein Bruder wohnt noch da. Und bestimmt ein paar meiner alten Freunde.«
»Willst du mich deiner Familie vorstellen?«, fragte Delphine und lachte.
Die Tür des Gasthauses hatte sich geöffnet, und eine alte Frau war herausgetreten. Sie blieb oben an der Treppe stehen und schaute misstrauisch zu den beiden Eindringlingen. Andreas und Delphine kehrten um und gingen zum Auto zurück.
»Fahren wir?«, fragte Delphine.
Andreas zögerte, dann startete er den Motor.
Es war vier Uhr, als sie das Dorf erreichten. Im Industriegebiet, das sich weit in die Ebene ausbreitete, standen ein paar Gebäude, die Andreas nicht erkannte, sonst schien sich in den letzten zehn Jahren nicht viel verändert zu haben. Er war erstaunt, wie gut er sich an alles erinnerte. Aber seine Erinnerungen waren nicht mit Gefühlen verbunden. Wenn er an seine Jugend dachte, war es ihm, als blättere er in Gedanken in einer fremden Biographie und betrachte Bilder, die nichts mit ihm zu tun hatten.
Vor dem Eingang des großen Lebensmittelgeschäfts wurden von einem Holztisch Feuerwerkskörper verkauft für die bevorstehende Nationalfeier. Andreas parkte hinter dem Hotel, das als Teil eines Kongresszentrums in den siebziger Jahren gebaut worden war. Während des Studiums hatte er hier als Nachtportier gearbeitet. Damals war ihm das Gebäude luxuriös erschienen, jetzt wirkte es klein und etwas heruntergekommen. Drinnen war es dunkel und kühl. Die Rezeption war nicht besetzt, und nachdem Andreas geklingelt hatte, dauerte es lange, bis jemand kam.
Im Zimmer roch es nach kaltem Zigarettenrauch und einem Duftspray. Der Boden war mit einem dicken braunen Teppichboden ausgelegt, und vor den Fenstern hingen orangefarbene Vorhänge aus beschichtetem Stoff.
Andreas öffnete das Fenster und schaute hinaus. Er sah den Fuß des Hügels, die reformierte Kirche mit ihrem hellroten Dach, und das Sekundarschulhaus, in dem er drei vergessene Jahre lang zur Schule gegangen war. Er schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Sie waren so dicht, dass kaum noch Licht ins Zimmer drang. Delphine hatte sich aufs Bett gelegt, ohne die Tagesdecke zu entfernen. Andreas legte sich neben sie.
»Ich kann dir das Dorf zeigen, wenn du willst. Aber dafür ist es zu heiß«, sagte er. »Wir könnten ins Schwimmbad gehen.«
»Willst du?« »Es sind bestimmt viele Kinder da. Bei dem Wetter. Wir sind zum Baden immer an die Weiher gefahren. Es gibt viele Weiher in dieser Gegend.«
»Ich möchte mich ein bisschen ausruhen«, sagte Delphine.
Er küsste sie. Sie sagte, der Ort deprimiere sie jetzt schon, sie wisse nicht, weshalb. Sie habe ja noch kaum etwas gesehen.
»Es ist alles so perfekt hier, so sauber und aufgeräumt. Und alles wirkt ein bisschen zu klein. Als sei es für Zwerge gebaut.«
»Die Schweizer sind größer als die Franzosen«, sagte Andreas.
Sie lagen schweigend nebeneinander. Nach einer
Weile wurde Delphines Atem tief und regelmäßig. Sie musste eingeschlafen sein.
Andreas dachte an die Sommer seiner Kindheit. Er sah sich im Garten seines Elternhauses liegen, mit einem Buch im Schatten der Bäume. Er fuhr mit dem Fahrrad an den Fluss. Er sprang im fast ausgetrockneten Flussbett von Stein zu Stein, stürzte und stand wieder auf. Dann lag er oben auf dem Hügel an einem Waldrand im hohen Gras, er wusste nicht, wie er dort hingekommen war. Ein Feuer brannte mit fast unsichtbaren, vom Sonnenlicht überstrahlten Flammen. Beißender Rauch und der Geruch und die Geräusche des Waldes. Spaziergänge allein oder mit der Familie und immer diese Müdigkeit und Schwere, die erst nachließen, wenn es Abend wurde. Die langen Abende draußen in einem Gartenrestaurant oder wieder am Waldrand oder an einem Weiher. Feste, die dauerten, bis es kühl wurde, und nächtliche Fahrten mit dem Fahrrad den Hügel hinab. Und dann, auf der Straße vor dem Elternhaus, nicht enden wollende Gespräche über die Liebe, das Leben, über Gott und die Welt. Die Pläne, die sie gemacht hatten. Die Welt war sehr groß gewesen damals und voller Möglichkeiten.
Als Andreas erwachte, war es acht Uhr. Delphine saß auf dem Bett. Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand und las in einer Frauenzeitschrift,
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