An einem Tag wie diesem
die sie mitgebracht haben musste. Er fragte, ob sie schon lange wach sei.
»Ich habe dich beim Schlafen beobachtet«, sagte sie. »Ich glaube, du hast geträumt.«
»Etwas Schönes?«
»Das musst du wissen.«
Andreas sagte, er gehe Zigaretten kaufen. »Ich bin gleich zurück.«
Am Zigarettenautomaten im Untergeschoss fand er seine Marke nicht. Er trat aus dem Hotel. Die Luft war immer noch schwer und warm. Er ging über den Marktplatz. Das Zentrum des Dorfes hatte sich kaum verändert, nur einige Geschäfte hatten zugemacht, und an ihrer Stelle waren andere entstanden. Da wo früher die Metzgerei gewesen war, war jetzt ein Geschäft für Bastelbedarf, in der ehemaligen Molkerei eine Kinderkleiderboutique. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, niemand, den Andreas erkannte. Die Leute kamen ihm vor wie Statisten in einem Film, gesichtslose Figuren, die von seinem Dorf Besitz ergriffen hatten, die taten, als führten sie ihre Hunde spazieren, als schauten sie sich die Schaufenster an, als gingen sie heim oder zu einem Vereinsabend. Sie schienen sich hier zu Hause zu fühlen, fanden ohne zu zögern ihren Weg und schauten ihm neugierig oder misstrauisch nach, als sei er der Fremde hier, und nicht sie.
Er betrachtete die Häuser, die Straßen und Bäume, als müssten Spuren an ihnen zu finden sein von seinem früheren Leben. Aber er sah nur stumme, gleichgültige Oberflächen. Er lehnte sich an einen der alten Kastanienbäume auf dem Marktplatz, fuhr mit den Händen über die schmutzig graue Rinde. Er sah sich als Kind hier vorbeigehen, er war auf dem Schulweg, auf dem Weg in die Musikstunde, dem Weg nach Hause. Der Platz war leer, und es war sehr still, aber die Luft
schien wie belebt. Andreas war auf seltsame Art glücklich, vielleicht war das die Erinnerung, dieses flüchtige Gefühl von Glück, das verschwand, sobald man versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Er wollte an nichts denken, aber es gelang ihm nicht. Ein paar Jugendliche kamen laut redend und lachend über den Platz auf ihn zu. Er stieß sich vom Baum ab und ging weiter zum Bahnhof. Der Kiosk hatte schon geschlossen. Von jenseits der Gleise war ein Auto zu hören, das stark beschleunigte, gleich darauf ein zweites. Auf der anderen Straßenseite war ein Gartenrestaurant. Andreas ging hinüber und durch den Garten hinein ins Lokal. Er fand den Zigarettenautomaten da, wo er immer gestanden hatte.
Delphine saß im Zimmer auf dem Bett, als habe sie sich nicht gerührt. Sie sagte, sie habe schon geglaubt, er habe sie sitzen lassen.
»Ich wäre total aufgeschmissen«, sagte sie. »Ich weiß noch nicht einmal, wie der Ort hier heißt. Und ich verstehe kein Wort.«
Sie gingen durch das Dorf, und Andreas zeigte Delphine die Orte seiner Kindheit, das Schulhaus, die Kirche, in der er konfirmiert worden war, und das Restaurant, in dem er sich mit seinen Freunden getroffen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das Dorf auf jemanden wirkte, der es noch nie gesehen hatte, der seine Geschichte nicht kannte, seine Geschichten und seine Bewohner.
Das Friedhofstor war geschlossen. Sie gingen weiter, überquerten den Bahnübergang und kamen zum Hallenbad und dann zu Andreas’ Elternhaus, in dem jetzt
sein Bruder wohnte. Es war kein Licht in den Fenstern. Sie standen vor dem Gartentor.
»Vielleicht sind sie in den Ferien«, sagte Delphine.
»Früher gab es einen versteckten Kellerschlüssel«, sagte Andreas. Ohne nachzudenken öffnete er das Tor. Es quietschte, und Andreas erinnerte sich an das Geräusch, das sich seit seiner Kindheit nicht verändert hatte. Er ging durch den Garten und hinter das Haus. Er stieg die Kellertreppe hinunter, Delphine blieb oben stehen. Der Schlüssel war da, wo er immer gewesen war, ein altertümlicher, rostiger Schlüssel.
»Komm«, flüsterte Andreas.
Im Keller war es dunkel, nur durch die Fenster drang etwas Licht. Andreas hatte sofort den Geruch erkannt, eine Mischung aus Erde, Schimmel und Heizöl. Er nahm Delphine bei der Hand und führte sie vorsichtig die Innentreppe hoch. Die Tür zur Wohnung war nicht abgeschlossen. Andreas öffnete sie und blieb einen Moment lang horchend stehen.
Auf dem Küchentisch standen ein Dutzend Blumentöpfe und eine kleine Gießkanne aus rotem Plastik. Daneben lag ein Zettel mit Anweisungen, welche Pflanzen nur einmal pro Woche zu gießen waren und welche häufiger.
»Sie müssen in den Ferien sein«, sagte er. »Wir machen besser kein Licht. Wenn die Nachbarn es sehen, rufen sie die
Weitere Kostenlose Bücher