An einem Tag wie diesem
Polizei.«
»Lass uns gehen«, sagte Delphine.
Andreas ging ins Wohnzimmer. Er zählte die Zeitungen, die auf dem Tisch lagen, und sagte, vermutlich käme die Familie in den nächsten Tagen zurück. Er trat
in den Flur und ging die Treppe hoch in den oberen Stock. Delphine blieb unten stehen und sagte, sie habe keine Lust, verhaftet zu werden. Dann folgte sie ihm doch.
Die Luft war warm und abgestanden. Andreas’ Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und er fand sich gut zurecht, obwohl die Fensterläden geschlossen waren. Er stand in seinem ehemaligen Zimmer und schaute sich um. Das Bett und der Schreibtisch waren noch an denselben Stellen wie früher, aber an den Wänden hingen Poster von Fußballern und Popstars, die er nicht kannte. Das Zimmer war aufgeräumt. Andreas erinnerte sich, dass sie immer hatten aufräumen müssen, bevor sie in die Ferien gefahren waren. Die Mutter hatte das ganze Haus geputzt, als habe sie Angst, nicht zurückzukommen und Schmutz und Unordnung zu hinterlassen.
Delphine war neben Andreas getreten.
»Komm«, sagte sie und zog ihn am Arm, »das macht man nicht.«
»Ich bin hier aufgewachsen«, sagte er. »Das ist mein Zimmer.«
»Das war dein Zimmer«, sagte Delphine. »Jetzt hast du es gesehen. Können wir gehen?«
»Ich kenne die Kinder meines Bruders kaum«, sagte Andreas.
Er hatte seine Nichte und seinen Neffen nur ein paar Mal getroffen. Bei der Beerdigung ihres Großvaters waren sie scheu gewesen, unauffällig. Einmal, vor ein paar Jahren, hatte ihn die ganze Familie in Paris besucht. Er hatte ein Hotel für sie reserviert und war
mit ihnen in Museen gegangen und in nicht zu teure Restaurants. Aber er hatte damals vor allem mit Walter gesprochen und mit Bettina. Die Kinder waren ihm sehr ruhig vorgekommen, höflich, aber uninteressant. Sie schienen sich zu langweilen, wenn er ihnen etwas erklärte oder zeigte. Sie schauten nur kurz hin und schienen nicht zu hören, was er sagte. In den Restaurants wählten sie immer die Speisen, die sie schon kannten, und dauernd waren sie müde oder hatten Durst oder mussten zur Toilette. Der Gedanke, dass die Familie in ihnen weiterleben würde, dass sie seine Erben waren, seine Nachkommen, hatte Andreas immer befremdet. Inzwischen war Maja achtzehn. Er konnte sich ihr Alter merken, weil sie in dem Jahr geboren war, in dem er nach Paris zog. Lukas war drei oder vier Jahre jünger.
Er hätte sich mehr um die Kinder kümmern sollen, dachte er, jetzt war es zu spät. Sie wussten bestimmt nicht mehr über ihn als er über sie. Der seltsame Onkel in Paris, von dem der Vater immer mit einem besorgten Unterton in der Stimme sprach. Wenn er überhaupt von ihm sprach. Andreas hatte nie sehr engen Kontakt zu seinem Bruder gehabt. Jetzt hatte er das Gefühl, ihm ganz nah zu sein und ihn zugleich zu verlieren. Er stand in einem leeren Haus.
»Es ist alles weg«, sagte er.
»Komm«, sagte Delphine noch einmal, aber diesmal klang es, als wolle sie ihn trösten. Er folgte ihr langsam die Treppen hinab und ins Freie.
Es war spät, als sie ins Hotel zurückkamen. Die Tür war abgeschlossen, und sie mussten klingeln. Der Nachtportier war ein junger Mann. Andreas fragte ihn nach seinem Namen. Es war ein Name, den er kannte, einer seiner Schulkollegen hatte so geheißen. Der junge Mann erzählte, er habe im Frühling seinen Militärdienst abgeschlossen und werde im Herbst mit dem Studium beginnen. In der Zwischenzeit arbeite er hier. Andreas sagte nichts von seiner Zeit als Nachtportier. Das war in einem anderen Hotel gewesen, in einem anderen Dorf, einer anderen Zeit.
Am nächsten Morgen gingen sie ins Schwimmbad. Delphine schwamm einen Kilometer, dann sprang sie vom Dreimeterbrett. Es hatte etwas Rührendes, wie sie sich vor Andreas aufspielte. Zum ersten Mal kam sie ihm jünger vor als er selbst.
Sie lagen am Ufer des Flusses und lasen. Andreas’ Körper war noch kühl vom Baden, die Sonne, die ihm auf Rücken und Beine brannte, drang nicht in die Tiefe, nur seine Haut schien zu glühen in der Hitze. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wohl. Am Mittag kauften sie Bratwürste am Kiosk und setzten sich an einen Holztisch im Schatten der Bäume.
»Und jetzt?«, fragte Delphine.
»Wir könnten einen Ausflug machen«, sagte Andreas. »Wir können wandern gehen in den Bergen oder an den Bodensee fahren oder an den Rheinfall.«
»Deswegen bist du doch nicht hier.«
Andreas schwieg einen Moment. Dann sagte er, er sei ins Dorf
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