An Paris hat niemand gedacht
Greta. »Der Herr Architekt, der in der Fremde Großes geleistet hat, ist einer von ihnen gewesen. Wen kümmert es da, was er seiner Familie angetan hat?«
»Du klingst zynisch.«
»Mag sein. So wie es aussieht, sind die meisten eigens angereiste Mitglieder seiner Studentenverbindung.«
»Er hatte also doch noch Freunde.«
»Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann.«
Einer der Herren in der letzten Reihe dreht sich nach ihnen um, lächelt freundlich und tritt zur Seite, um Platz zu machen. Unter seinem Mantel ist ein schmales Stoffband zu sehen, das
Marta bekannt vorkommt. Richard trug gelegentlich das gleiche. Es zog sich schwarz-rot-golden von seiner rechten Schulter über die Krawatte bis etwa zwei Hand breit unter die linke Achsel, wo es von einem Emailleknopf zusammengehalten wurde. Ein Wappen mit ineinander verschlungenen Initialen war darauf zu sehen, das Marta schön und geheimnisvoll fand. Einmal hatte sie Richard gefragt, was es bedeutet, dass hinter dem Schnörkel, den er auch in manchen Briefen hinter seinen Namen malte, ein Ausrufezeichen stand, aber Richards Antwort hatte sie vergessen. Fragen zu seiner Verbindung stimmten ihn milde, und die Tage, an denen er das Stoffband anlegte und die rote Mütze mit dem schwarzen Lederschirm aus dem Schrank nahm, waren meist von guter Laune geprägt. Das hatte es gegeben: Einen Vater, der Witze machte, den Mädchen die Mütze mit den goldumstickten Löchern auf den Kopf setzte und lachte, wenn sie ihnen bis auf die Nase hing, einen Vater, der Marta das Band um die Schulter legte und sang:
»Germania, dir gehör ich, mit Herz und auch mit Hand.
Auf deine Farben schwör ich, das schwarz-rot-güldne Band.«
Seit sie wieder in Deutschland wohnten, hatte die Familie jährlich geschlossen beim sogenannten Stiftungsfest zu erscheinen, wo sich seltsame Trinkrituale mit vaterlandsverherrlichenden Liedern mischten, deren Texte Marta erst später hassen lernte. Greta saß dann steif auf einer der Bierbänke, widmete sich der kleinen Kati, sobald jemand mit ihr in Kontakt zu treten versuchte, und schaute ab und zu regungslos auf Richard, der den geselligen Familienvater mimte. Sophia und Marta ließen sich von ihm Limonade spendieren, spielten die höflichen Wördehofftöchter, von denen eine, Sophia, bereits mit zwölf als blonde Schönheit von den Herren umworben wurde und die meisten Süßigkeiten einheimste. Den Blicken der Mutter, die sie ansah
wie Verräterinnen, wichen sie aus. Auf der Rückfahrt gab es stets heftige Beschimpfungen über Gretas Arroganz, die sie, stumm den Wagen lenkend, über sich ergehen ließ, während die Mädchen auf dem Rücksitz so taten, als schliefen sie fest.
Beim letzten Fest, das Marta im Stiftungshaus erlebte, war sie vierzehn, und Richard ermunterte sie, ruhig mit den »Burschen« Kontakt aufzunehmen. Er, der wegen »möglicher Kontakte intimer Art« grundsätzlich gegen die Teilnahme an Klassenfahrten war und den Besuch von Schulkameraden männlichen Geschlechts strengstens untersagt hatte, selbst wenn es nur um das Lernen von Lateinvokabeln ging. Nein, diese Proleten in Röhrenjeans sollten seinen Töchtern nicht zu nahe kommen. Wenn er schon keinen Stammhalter hatte, wollte er einen Schwiegersohn geliefert bekommen, der seiner Kaste entsprach. So trachtete er danach, jede seiner Töchter zu gegebener Zeit, leidlich gebildet und im Stande der Jungfräulichkeit, zwecks staats- und kirchenrechtlich gesegneter Begattung an einen jungen Bundesbruder zu übergeben. Dem würde sie Kinder und gepflegte Gespräche schenken und einmal im Jahr das Ergebnis sorgfältiger Erziehung und Wördehoffscher Fruchtbarkeit auf dem Stiftungsfest präsentieren. Bis dahin: keine Klassenfahrten, keine Partys, keine Jungs auf dem Zimmer.
Burschen heraus! Lasset es schallen von Haus zu Haus!
Wenn es gilt für Vaterland,
treu die Klingen dann zur Hand,
und heraus mit mut’gem Sang,
wär’ es auch zum letzten Gang!
So sangen junge Männer von Stand und akademischer Würde, die früh als potentielle Schwiegersöhne Umgang mit den Töchtern pflegen durften. Was hätte er dazu gesagt, dass einer der ehrenwerten Burschen versucht hatte, seine Hand zwischen Sophias
Schenkel zu drängen, als sie im dunklen Flur vor den Toiletten an ihm vorbeischlüpfen wollte? Marta kam wenige Sekunden später nach, ihre Zähne hinterließen eine blutige Spur im Arm des Studenten. Auf die Idee, den Vorfall ihren Eltern zu berichten, wären sie nie gekommen. Richards
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