An Paris hat niemand gedacht
das; zumindest aus ihrer Sicht. Die Frage, wer von ihnen mehr unter ihm gelitten hatte, war ebenso infantil wie absurd.
»Du konntest dich doch auch aus dieser Hölle befreien«, sagte Marta so milde, wie es ihr möglich war.
»Befreien?«, fuhr Greta sie an. »Ich habe ihn verlassen, ja, zu spät, aber besser als nie. Ich habe Arbeit gefunden, mich alleine
durchgeschlagen, Karriere gemacht, wunderbar. Aber die Jahre, die ganzen Jahre, die ich Idiotin mir von ihm habe stehlen lassen, sie sind weg. Sieh mich an: Ich bin neunundfünfzig Jahre alt und habe noch bis vor wenigen Tagen Panikanfälle bekommen, wenn ich im Dunkeln Schritte hinter mir hörte, habe mich bei jedem Gang aus dem Haus vergewissert, dass er mir nicht auflauert. Freiheit sieht anders aus.«
Ich weiß genau, was du meinst, hätte Marta gerne gesagt, fand aber weder Ton noch Raum.
Gretas Wangen hatten sich gerötet. Sie nahm einen Schluck Kaffee, tupfte sich die Lippen mit einer Papierserviette ab und fragte leise: »Hast du denn keine Angst vor ihm gehabt?«
»Jeden verdammten Tag!«
Gretas Hand wanderte in Richtung von Martas Gesicht, rettete sich rechtzeitig an den Hals einer Blumenvase, die sie sinnlos auf die andere Seite des Tisches schob. Marta tat, als merke sie es nicht.
Zehn Minuten später saßen sie zu zweit rauchend auf der Motorhaube und schauten auf die verlassenen Kaffeetassen hinter der Scheibe.
Weiter hinten, am Ende des Kieswegs, ist eine Gruppe von Menschen zu erkennen, halb verdeckt von Buschwerk und den herunterhängenden Zweigen der obligatorischen Trauerweide, die mittig den kleinen Dorffriedhof ziert. Gretas Absätze versinken im feuchten Untergrund, als sie und Marta die Wiese überqueren und sich der Beerdigungsgesellschaft nähern. Etwa dreißig schwarze Mäntel, die meisten mit Hut, dazwischen schimmert unerwartet Rotes. Greta bleibt wie angewurzelt stehen.
»Ach du Schande.«
»Was meinst du?«, fragt Marta, während sie zusieht, wie Greta
sich bei dicht bewölktem Nachmittagshimmel eine Sonnenbrille ins Gesicht schiebt.
»Es gibt also einen Lebensbund, der ihm bis zum Grab erhalten blieb.« Sie deutet auf die Versammlung, »Ehre, Freiheit, Vaterland«, und beginnt hektisch in ihrer Handtasche zu wühlen.
»Häh?«
»Richards Studentenverbindung.«
»Ach du Schande!«
»Sag ich doch!«
Nach einem prüfenden Blick auf Gretas eben angelegte Tarnung muss Marta lachen. Sie greift ins Vorderfach ihres Rucksacks und hält exakt das gleiche Modell in die Höhe: »Ray Ban 4068 Shiny Black!«
»Gibt’s ja nicht!«
Greta freut sich, als hätte sie soeben einen lang ersehnten Vertrauensbeweis erhalten. Marta schiebt sich ihrerseits die dunklen Gläser ins Gesicht: Breites Grinsen in doppelter Ausführung. Sie werfen einander nicht mehr sichtbare Blicke zu: Transmissionsgrad achtzehn Prozent. Marta hat einen Spruch der Blues Brothers auf der Zunge, schluckt ihn gerade noch herunter und überlegt, wie oft sie in den letzten achtundvierzig Stunden den Totalverlust ihres Verstands in Betracht gezogen hat und warum sie das jetzt erstmals witzig findet.
Mit schlurfenden Schritten kommt eine junge Frau in grüner Arbeitskleidung und kniehohen Gummistiefeln des Wegs. »Kann ich helfen?« Sie hat eine Harke geschultert, die sie, obgleich noch am Leben, als dem Ort zugehörig ausweist, und mustert mit einer Mischung aus Verwunderung und Freundlichkeit die beiden Frauen, die albern kichernd mitten auf dem Rasen stehen.
»Wir wollen zur Beerdigung von Richard Wördehoff.«
Die Friedhofsgärtnerin hebt die Harke leicht an und bewegt sie schwungvoll nach vorne. »Es findet heute nur eine Beisetzung bei uns statt; also wird die da vorn die richtige sein.«
Die richtige Beerdigung, denkt Greta und bedankt sich etwas zu überschwänglich.
Marta sieht eine Lanze durch die Luft fliegen, hektisch schreiend flüchtet die Trauergemeinde nach allen Seiten, aus dem rechteckigen Loch ragt das Ende eines Gartengeräts.
»Kommst du?«
Marta folgt Greta. Die junge Frau entfernt sich leise pfeifend, die Harke nach wie vor geschultert.
»Richard Wördehoff ist durch den Tod von uns genommen worden. Wir sind voll Trauer und suchen Trost in den Worten der Schrift …«
Die Stimme lässt auf einen jüngeren Pastor schließen. Als Marta und Greta sich der Gruppe nähern, bleibt er hinter einer Reihe dunkler Männerrücken unsichtbar.
»Warum sind hier so viele Leute?«, fragt Marta.
»Wir befinden uns in einem Dorf«, antwortet
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