Analog 04
sie.
Zwar waren alle Pfützen versickert, aber der Boden war noch weich vom nächtlichen Regen. Jack hatte keine Schwierigkeiten, mit Shi’Lor Schritt zu halten, aber Martina rutschte, stolperte, litt in der feuchten Luft unter Atemnot und fiel weiter und weiter zurück. Nach einer Weile erreichten die beiden Gestalten vor ihr einen Hügelkamm und waren bald danach dahinter verschwunden. Als sie selbst den Kamm erreichte, konnte sie sie in einiger Ferne sehen. Sie waren stehengeblieben, der Mensch ein paar Schritte hinter der Jinrah, und standen an einem Flußufer. Martina lief mit aller Kraft und fragte sich, ob sich das verzweifelte Mädchen in den Fluß stürzen wollte.
„Shi’Lor!“ schrie sie. „Shi’Lor! Die älteste Tochter darf nichts Unsinniges tun! Jack, laß es nicht zu!“
Als Martina Jack erreicht hatte, hielt er sie am Arm fest. „Du Xenologin!“ stieß er hervor. Auch sein Atem ging schwer. „Hier handelt es sich wieder mal um ein Tabu! Merkst du das denn nicht?“
Shi’Lor stand direkt am Rand des Wassers und starrte in die dunklen, trägen Fluten. Sie bewegte sich nicht.
„Shi’Lor …“, flüsterte Martina.
Shi’Lor legte beide Hände an die Brust, krallte die Finger in das lange, dichte Fell und riß heftig daran. Ein Laut wie von zerreißendem Stoff war zu hören, und ein Hautlappen löste sich von ihrem Oberkörper. Wie ein Fetzen hing er von ihren unteren Rippen herab und bedeckte ihren Bauch.
Jetzt war eine rosige, längliche Form zu sehen, die an einer Seite ihres Oberkörpers klebte. Das Gebilde war von einer Flüssigkeit bedeckt, die so hell war, daß es sich bei ihr nicht um Jinrah-Blut handeln konnte. Einen Augenblick später löste sich das rosige Etwas, und Shi’Lor fing es mit den Händen auf. Sie stieß es von sich, und mit einem leisen Platschen versank es im Fluß.
„Das war ein Fötus!“ schluckte Jack. „Sie hat einen Hautbeutel! Verdammt, sie hat einen Beutel!“ Er sah hinab auf die Wasserfläche. Das fortgeworfene Ding trieb jetzt langsam in der Strömung. „Ich muß es haben!“ sagte er. Er begann am Ufer entlangzulaufen, wobei er Shi’Lor hin und wieder einen Blick zuwarf. „Ich treffe dich später in der Station!“ rief er Martina zu.
„Jack, ich glaube nicht, daß du es herausfischen solltest. Sie hat es fortgeworfen – es ist wahrscheinlich tabu!“
„Ich muß es haben!“ erwiderte er.
„Es wäre fast so, als würde man ein Grab öffnen!“
„Wie kannst du das behaupten?“ Er lief schneller. „Ich werde schon aufpassen. Hoffentlich geht es nicht unter!“
Martina eilte zu Shi’Lor hinüber. Sie wollte sie von Jack und von dem im Fluß treibenden Ding ablenken. Doch es war nicht nötig, Shi’Lor abzulenken. Sie achtete gar nicht auf Jack, sie sah nirgendwo hin. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Arme hingen schlaff herab. Sie hatte sich den Hautlappen wieder an den Leib gepreßt, und Martina konnte die Rippen nicht mehr sehen.
Nach einer langen Zeit drehte sich Shi’Lor um und trottete den Weg zurück, den sie gekommen war. Martina folgte ihr schweigend. Sie verließ sie am heiligen Hain von Shi’Lors Familie. Die äußere Umgrenzung war durch eine Reihe von niedrigen Büschen, an denen Jinrah-Haarbüschel befestigt waren, genau markiert. Martina beobachtete ihre Jinrah-Freundin dabei, wie sie zwischen den Büschen hindurchging und dann über den Bodenstreifen schritt, der die Umrandung vom eigentlichen Hain teilte. Sie sah, wie sich Shi’Lor vor ihre persönlichen Pflanze, ihre heilige Schwester, kniete. Sie legte ihre Hände links und rechts an den Stamm und preßte ihre Stirn gegen die Stelle zwischen den Händen. In dieser Stellung würde sie nun den größten Teil des Tages verharren. Die Jinrah vollzogen dieses Ritual sehr häufig, allerdings in unregelmäßigen Abständen.
Während des ganzen Tages unterhielt sich Martina mit den anderen Jinrah. Sie hätte gern gewußt, was Shi’Lors Tat zu bedeuten hatte, doch sie wagte nicht, den anderen Jinrah davon zu erzählen, da sie befürchtete, daß sie das arme Mädchen in Schwierigkeiten stürzen könnte. Sie wartete darauf, daß jemand anders das Gespräch auf den Regen und seine Gefahren bringen oder etwas über Shi’Lors närrisches Benehmen sagen würde, doch niemand redete davon.
Als sie zur Station zurückkehrte, konnte sie an Jacks erregtem Zustand sogleich ablesen, daß er den Fötus gefunden hatte. Er beteuerte, daß ihn niemand beobachtet hatte. Sie mußte
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