Anarchy in the UKR
hüte ich selbst die kleinsten Beutestücke, die ich in meinen endlosen Streifzügen durch das mir damals absolut fremde Erwachsenenleben mit Kampf und Verlust ergattert habe. Es war einfach ein Fehler, mich zu ignorieren.
Das, was die Erwachsenen als normal und alltäglich empfinden, abgesehen von den Vorteilen und Vergünstigungen, die mir als Achtjährigem eingeräumt wurden, war für mich eine Offenbarung, etwas völlig Neues, ich erlitt einen wahren Schmerzschock, seit dreißig Jahren erleide ich einen Schmerzschock, wann immer ich mit dem kleinsten Stück Wirklichkeit konfrontiert werde, sie bringt mich einfach um mit ihrer inneren Ordnung, mit ihrer Struktur, die man nicht einfach so künstlich nachbilden kann, ohne heilige Dinge wie Liebe, Eifersucht, Tranquilizer oder Verhütungsmittel einzubeziehen.
Der Schock verfliegt schnell, aber zurück bleibt eine neue Narbe an der Vene, ein neuer Schnitt, den ich in zwanzig Jahren wieder betrachte, mir die kleinsten Details und Umstände in Erinnerung rufend, und trotzdem habe ich mich in den zwanzig Jahren dem Verständnis der verlockenden Einfachheit dieses Sujets kein bißchen angenähert.
Sie treffen sich rein zufällig eines Tages, sagen wir mal, am Agitpunkt, im April finden Wahlen statt, sie müssen wegen irgendwelcher Informationen zum Agitpunkt, sie sollen gesellschaftliche Arbeit leisten, man sieht sofort, daß ihnen das nicht gefällt. Sie tragen die lächerliche und aufgemotzte Kleidung der Achtziger – er eine blaue Jacke, sie einen dünnen Mantel, der Frühling ist kalt, aber sie achtet nicht darauf, sie trägt den Mantel zum ersten Mal nach dem Winter und nimmt von der Kälte keine Notiz. Er hat Probleme beim Studium, wurde ein paar Mal als Zeuge in Prozessen gegen Rowdytum und öffentliche Ruhestörung vorgeladen; sie hat, wie nicht anders zu erwarten, natürlich keinerlei Probleme, weder mit der Ausbildung noch sonst, kein Wunder, daß sie, als sie sich am Agitpunkt treffen, aufeinander aufmerksam werden. Sie gefällt ihm, sie gefällt auch seinen Freunden; obwohl seinen Freunden sonst nie jemand gefällt, aber bei ihr sagen sie plötzlich, sie ist okay, die Schnecke, sie ist okay, na los, geh zu ihr, wovor hast du Schiß? Er weiß selbst nicht, wovor er Schiß hat, er hat eben Schiß, ist nervös und benimmt sich wie ein Downie, aber lassen wir das. Sie weiß nicht, ob er ihr gefällt, er hat einen Haufen Probleme, eine ätzende Jacke und ein Jahr auf Bewährung, ihren Eltern gefällt er nicht, ihren Freundinnen gefällt er auch nicht, ein Downie, sieht man doch sofort. Am Wahltag treffen sie sich wieder, am Agitpunkt flattern die Fahnen, am Imbiß gibt es Mineralwasser, er versucht sie zu übersehen, und sie fängt – für sich selbst überraschend – ein Gespräch mit ihm an. Dann geht sie nach Hause und legt coole Musik auf oder das, was sie für cool hält, vielleicht Police oder Abba, sagen wir mal, Abba, ja, danach sitzt sie im warmen Pullover zu Hause und hört Abba, und er läuft unterwegs in eine Streife, die ihm rein prophylaktisch erst mal eins überzieht. Ihre Beziehung macht sichtbare Fortschritte.
Nach den Gesetzen des Genres wäre jetzt eine Zäsur fällig. Eine andere Frau muß in sein Leben treten – mit weniger Anspruch und mehr Erfahrung. Aber sie kommt nicht, und in solchen Fällen ist die Reinheit des Genres schwer einzuhalten, da macht man es dann, sag ich mir jetzt, schon besser authentisch. Seine Freunde sagen zu ihm, okay, sagen sie, wir wußten, daß du ein Downie bist, du hast es uns noch mal bewiesen, super, los, laßt uns paar Scheiben einschmeißen hier im Viertel, er geht mit. Aber jetzt nimmt die Sache eine unerwartete Wendung – ihrem jüngeren Bruder, der alles still beobachtet, dämmert auf einmal, daß nicht mehr viel fehlt und sie alles verreißen, die zwei, die sich mittlerweile beide wie Downies benehmen, voll daneben. Geht er also zu ihm und sagt, bist du beknackt, Alter, peilst du überhaupt, was da abgeht? Und auch wenn ihr euch morgen trennt, sagt er, wenn ihr euch nicht mehr grüßt oder euch prügelt – komm aus dem Knick, Alter, oder merkst du's nicht mehr? Zuerst will er ihm an die Gurgel, dann muß er sich eingestehen und dem Bruder natürlich gleich mit, daß es stimmt, ja, er will sie, sie gefällt ihm, und seinen Freunden gefällt sie auch (an dieser Stelle unterbricht ihn der Bruder, sagt, daß die Freunde hier nichts zu suchen haben), und überhaupt denkt er nur noch an sie. Na, dann
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