Anarchy in the UKR
los, sagt ihr Bruder zu ihm, die Erzeuger sind gerade ausgeflogen, nach Prag gefahren, wohin? will er wissen, nach Prag, sagt ihr Bruder, Tschechoslowakei, schon mal gehört? Klar, sagt er, na, dann raff dich auf, geh, hier hast du ein Kondom. Er nimmt es und geht tatsächlich zu ihr. Sie hat ihn natürlich nicht erwartet, aber, wißt ihr, nun passiert folgendes: er bleibt plötzlich über Nacht, und sie schmeißt ihn nicht raus. Sie schmeißt ihn auch am nächsten Tag nicht raus, nur gegen Abend will sie sich ein bißchen ausruhen, sie bringt ihn zur Haltestelle, bleibt lange stehen und läßt ihn nicht weg. Dann trennen sie sich und gehen nach Hause, fallen auf den Rücken, jeder in sein Bett, und beim Einschlafen schauen sie in den Himmel. Der Himmel liegt auf dem Bauch, ist auch gerade am Einschlafen und sieht auf die beiden herunter.
1983 Vergnügungspark.
Die sowjetische Propaganda hat mich dazu erzogen, das Leben zu lieben. Die rote Farbe der Fahnen und Transparente hat sich in meine Netzhaut gebrannt wie Jod in eine offene Wunde. Die strengen, funktionalen Messages, die auf den ersten Blick jede Menge Faktenmaterial enthielten, die Diagramme und Graphiken zum Wirtschaftswachstum, die asketischen Porträts und die kommunistische Ornamentalistik erzeugten eine schläfrige Stimmung. Jetzt finde ich sie wieder, die Bruchstücke der großen Alltagsästhetik, und ich verstehe, wozu sie gut sind – sie helfen mir, mich und meine Nächsten zu identifizieren, sie geben mir die Möglichkeit, mich an meine Zeit zu halten, zu spüren, wie sie pulsiert, mir aus den Händen zu springen droht. Ich mag die Farbe Rot, ich mag die roten Fahnen, rot war die erste Fahne, mit der ich ins Stadion ging, in Wirklichkeit war sie nicht ganz rot, sondern rot-weiß, glaube ich, es war die georgische Fahne, alle meine Freunde gingen ins Stadion, und jeder hatte etwas dabei, ich hatte im Kulturhaus in irgendeiner Ecke die Fahnen der Bruderrepubliken gefunden, alle fünfzehn, ich nahm die georgische, mit dem weißen Streifen erinnerte sie mich an die Fahne von Spartak, ich war auf dem Weg ins Stadion und dachte: Mensch, so eine coole Fahne, so eine Fahne hat sonst niemand, Passanten kamen mir entgegen und dachten: was ist denn das für ein Idiot mit einer georgischen Fahne; ich hatte mit der Gesellschaft noch eine Rechnung offen – sie verstand mich nicht, und das vergaß ich ihr nicht.
An Gebäuden und Denkmälern ehemals sowjetischer Städte finde ich Zeichen und Zeugnisse des großen Informationskrieges und verstehe, warum sie mir so gefallen – das sind die Buchstaben meiner Kindheit, die Farben meiner Achtziger, meine erste Liebe, mein wirklicher Stolz, mein privater Sozialismus, den sie mir ohne mein Einverständnis weggenommen haben. Mein Sozialismus war vor allem etwas Äußerliches, Sichtbares, ein Fassadenelement, das ganze Gewese mit der sozialen Sicherheit und der Freude an der kommunistischen Arbeit wurde mir erst viel später wichtig, damals sah ich die weißen Buchstaben auf rotem Fahnentuch, und das Bild fand ich im großen und ganzen in Ordnung. Da war wenig Ideologie, ich verstehe sehr gut, daß die Farbwahl und Bildkomposition von »Ehre und Ruhm der Partei« aus den Achtzigern dem »Always Coca-Cola« der Neunziger gleicht. Jeder findet sein eigenes Pathos, und wer nicht, geht an Depressionen zugrunde.
Im ersten Stock des Busbahnhofs, in der Wartehalle, hing in meinen Kindertagen ein Bild. Erstens war es riesig, so drei mal vier Meter. Zweitens beeindruckte es durch die Anzahl der Figuren – dargestellt war der Kongreß der örtlichen Volksdeputierten, vor denen Iljitsch sprach. Es waren ungefähr fünfzig Abgeordnete, irgend jemand hatte sorgfältig und wirklichkeitsnah ihre verbundenen Köpfe und die über die Schultern geworfenen Gewehrriemen gemalt, in der Ecke stand ein riesiges, schwarzes Maxim-Maschinengewehr, das dem gehorsamen Bernhardiner glich, mit dem Iljitsch abends durch den Smolny spazierte, damit es nicht so einsam war, doch nun hatte er ihn zum Kongreß der Volksdeputierten mitgebracht, und nachdem er ihn an einem Stuhlbein festgemacht hatte, ging er zur Analyse der politischen Lage im Land über; die Deputierten hörten Iljitsch aufmerksam zu, selbst wenn man die ungeheure Bildgröße außer acht ließ, es war nicht zu übersehen, wie ihre üppigen Haarschöpfe zustimmend nickten und sie sich für ihre dreckigen Stiefel schämten, an denen der ganze Schlamm und die Scheiße der
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