Anarchy in the UKR
Seite, dahin, wo er hergekommen ist, fucking yankee , deutet Lenin ihm an, go home , er ist scheiße drauf, das heißt, nicht Lenin, sondern der Investor, Wladimir Iljitsch ist gerade super drauf, die große bürgerliche Revolution hat endlich begonnen, die Leute machen richtig einen los, für Lenin gibt's was zu sehen, aber er, der Investor, der scharfzähnige Raubfisch auf dem Wertpapiermarkt, hat gar keinen Bock, traurig schaut er sich den revolutionären Ausbruch der Volksmassen an, und nun hat er die Wahl …
Praktisch kann er sich jetzt aussuchen, wie die Handlung weitergehen soll – als echtes Kind der westlichen Sozialdemokratie kann er vorübergehend auf seine Pflichten gegenüber der Geschäftsführung pfeifen, eine Woche Urlaub nehmen und sich kopfüber in die revolutionäre Romantik stürzen, auf dem Platz campieren, sich (nach Maßgabe der Vernunft) mit den Polizisten verbrüdern, um schließlich den Sieg davonzutragen und guten Gewissens sein Geld in irgendeinem miesen Energiegeschäft in der Region anzulegen. Genausogut kann er sich, wie ein typischer feiger Liberaler, auf die Seite der Machthaber schlagen, die moralisch verkommenen Volksmassen für ihre ganzen unmotivierten Aktionen verurteilen und seine Investitionen auf bessere Zeiten verschieben. Schließlich könnte er, als echter Anhänger der Globalisierung, auf das alles pfeifen, trotzdem eine Woche Urlaub nehmen, sich auf eine, Urlaubsinsel verpissen, wo dann hoffentlich die eiskalte Welle eines gerechten indonesischen Tsunami über ihm zusammenschlägt. Jetzt steht er am Lenin-Denkmal und trifft seine Wahl. Und neben ihm stehen Hunderte frierender Bürger dieses merkwürdigen, kalten Landes und treffen ebenfalls ihre Wahl. In meinen Augen ist das ein Melodrama.
Was habe ich im vergangenen halben Jahr gemacht? Ich kann mich nicht mal mehr an alle erinnern, die ich kennengelernt habe – eine lange, endlose Liste neuer Personen, neuer Helden, die aus dem schwarzen Schlamm dieses Herbstes aufgetaucht und genauso schmerzlos wieder darin untergegangen sind, sie kamen hinter dicken Septemberbäumen hervor, stiegen in der Oktoberdämmerung in Züge, warteten argwöhnisch ab, standen den ganzen November hindurch; plötzlich wurden es unheimlich viele, dicht an dicht drängten sie sich auf dem Marktplatz meiner Privatgespräche, was soll's, ich stand vor ihnen, genau wie dieses Scheiß-Lenin-Denkmal, sie standen vor mir, ohne mich wahrzunehmen, ohne wirklich zu begreifen, wer ich bin, und in Letzterem waren wir uns sehr ähnlich.
Vielleicht wird es irgendwann abgetragen, dieses Denkmal, sie schicken einen Kran und demontieren es einfach, und an seiner Stelle wird irgendeine allegorische Figur installiert, die in den Augen der Nachkommen die Vollendung der nationalen Befreiungsbewegung symbolisiert. Mir ist es eigentlich egal, ich hatte noch nie was für Denkmäler übrig, schon gar nicht für Politikerdenkmäler, Politikern sollte man meiner Meinung nach eins drüber ziehen und keine Denkmäler errichten, aber diesem Denkmal, dem Lenin-Denkmal, werde ich nachtrauern, wenn die Nachkommen es doch abreißen sollten. Übermäßig viel Positives ist nicht von ihm geblieben. Ich verabrede mich zum Beispiel oft hier, sitze gern unterm Lenin und warte, bis mein Kleiner Schulschluß hat, mit meinem Cousin kurve ich hier auf dem Fahrrad herum und erschrecke die Rentner, schließlich habe ich hier, am Fuße des Denkmals, volle zwei Wochen gelebt, und auch wenn das keine Nostalgie in mir weckt, es wäre doch schade drum.
An einem dieser lustigen Tage am Lenin-Denkmal tauchte plötzlich ein alter Bekannter von mir auf, ein etwas schräger, ziemlich abstruser Typ, zu dem ich seit langem guten Kontakt hatte. Obwohl, was heißt guten Kontakt, ich war mir schon seit zwei Jahren sicher, daß er tot sei, verschwunden war er schon früher, aber anfangs hörte man noch ab und zu was von ihm, dann war auch das vorbei, bis mir jemand sagte, er sei gestorben. Ich kann nicht sagen, daß er mir übermäßig fehlte, ein schräger Typ, aber wieder gab es einen Verrückten weniger, er war ganz nett gewesen, wir hatten uns ein paar Mal zusammen besoffen, und überhaupt – wenn jemand mit dreißig stirbt, ist das niemals angenehm, da geht dir die Sicherheit flöten. Und da tauchte er plötzlich auf, begrüßte mich freudig, verwickelte mich in ein Gespräch, fing an, über Politik zu reden, klar – in dem Herbst hatten alle einen Knall und redeten nur noch über Politik,
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