Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
1
Ich hatte seit einer Woche leichtes Fieber. Nicht wirklich kräftezehrend, eher bewusstseinserweiternd. Manchmal sah ich die Welt verschwommen, ein anderes Mal klangen Geräusche erst gedämpft, dann intensiv. Wenn ich mich durch die dichte Atmosphäre bewegte, spürte ich, wie mein volles Gewicht von hundertsechsundsechzig Pfund auf meine Fußsohlen drückte.
Normalerweise vertrieb Aspirin derlei Symptome, doch ich hatte die kleine Schachtel auf meinem Schreibtisch liegen lassen und konnte die nach Urin stinkende Ecke, wo ich gerade wartete, nicht verlassen, weil ich dort so etwas wie einen Klienten treffen sollte.
Die untere Ebene des Port-Authority-Bus-Terminals war bevölkert von jungen Hoffnungsträgern auf dem Weg zum College und frisch Verliebten auf dem Weg ins Leben. Inmitten dieser Optimisten tummelten sich Mitläufer, die überallhin unterwegs waren, nur nicht dorthin, wo sie sich selbst hätten finden können. Unter die Zivilisten hatten sich Crackheads gemischt, außerdem diverse Polizisten, Port-Authority-Angestellte und freischaffende Gauner.
Ein Mann mittleren Alters mit Hornbrille und einem Klemmbrett in der Hand stand vor der Damentoilette und fragte die herauskommenden Frauen, ob sie ihm etwas über die sanitären Anlagen mitteilen wollten. Einige reagierten höflich, andere ignorierten ihn, wieder andere blieben stehen, um über Lecks, Gestank und die Qualität der Papierprodukte oder den Mangel an solchen zu plaudern.
Der Bus hatte fünf Minuten Verspätung, doch auf den wartete eh kaum jemand. Außer mir waren es drei ältere und eine jüngere Frau. Wir waren alle schwarz, was wir jedoch nicht zwingend hätten sein müssen.
Zwei junge Männer, ein Schwarzer und ein Weißer, begannen, an eine rot gekachelte Wand gelehnt, über einen imaginären Beat zu rappen. Die schlichte schwarze junge Frau, die mit mir auf den Bus wartete, blickte verstohlen in ihre Richtung.
Die Männer waren schmutzig, vermutlich auf Droge und obdachlos – doch der imaginäre Beat, zu dem sie sangen und sich bewegten, lebte schon viel länger in ihrer Brust, als es Häuser und Busse gab – oder Gefängnisse.
»Verzeihung, Mistah?«, fragte eine Frau.
Sie hatte gelbbraune Haut mit dunkelbraunen Sommersprossen, dunkelorangefarbene Augen und einen Gesichtsausdruck, der hervorgebracht worden war, als sie noch liebevolle Eltern gebraucht hätte, um ihre Ängste zu erkunden. Die Tatsache, dass sie inzwischen fast sechzig war, hatte die Ängste, die ihr besorgtes inneres Kind verfolgten, nicht ausgelöscht.
»Ja?«, sagte ich, froh über die Ablenkung von meinen fiebrigen Beobachtungen.
»Ist das der Bus vom Albion-Gefängnis?«
»Ist er, wenn er kommt.«
Sie lächelte, weil sie die Skepsis gegenüber jeder Vorhersage wiedererkannte, die uns unsere gemeinsamen Vorfahren, arme Arbeiter, gelehrt hatten.
»Missy, die Kleine von meiner Cousine, ist heute Morgen entlassen worden. Ich dachte, wenn ich sie abhole und ihr ein Sandwich oder ein Kleid oder irgendwas kaufe, weiß sie, jemand ist für sie da, und vielleicht glaubt sie dann eher, dass sie nicht gleich wieder eingebuchtet wird.«
»Ich denke, da könnten Sie recht haben«, sagte ich. Ich wollte ein »Ma’am« hinzufügen, doch sie war nur ein paar Jahre älter als ich.
»Warten Sie auch auf Verwandte?«, fragte die Frau, da wir ja nun vorübergehend befreundet waren.
»Ähm … nein. Eigentlich nicht. Ich bin beruflich hier.«
Die namenlose Großcousine der frisch entlassenen Missy wich ein Stück zurück und wandte sich ab. Mit nur wenigen Worten hatte ich mich von einem neuen Freund in einen potenziellen Feind verwandelt.
Das war mir recht. Das Fieber hatte sich bereits an ihrer Frage festgekrallt und spulte eine eigene Geschichte ab.
Zella Grisham hatte versucht, ihren Freund umzubringen – sie hatte drei Mal auf ihn geschossen. Aber nicht dafür hatte sie die Hälfte einer sechzehnjährigen Haftstrafe abgesessen.
Manche Leute hatten einfach Pech. Am Ende hatten vermutlich alle Pech. Ihres war ein perfekt ausgeführter Diebstahl, meins – auch wenn ich das damals noch nicht wusste – war ihre Freilassung.
»Mistah?«, fragte eine andere Frau.
Sie war etwa ein Drittel so alt wie Missys Großcousine und wirkte selbst im grellen Licht des Busbahnhofs hübsch. Sie war weiß, kalkweiß, mit ihrem stark gebleichten Haar, das sich kaum von ihrer Haut abhob, sah sie aus wie ein schönes Gespenst, das in der Vorhölle von Port Authority auf Seelensuche
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