Anarchy in the UKR
Rinnsal des Neujahrshimmels, das hilft also keinem.
Das zentrale Gebäude unserer Stadt muß man sich von oben ansehen, aus der Vogelperspektive, dann wird die funktionale Anpassung der Stadtinfrastruktur deutlich, ihre praktische Komponente. Wer in Zukunft universelle Megastädte des Kommunismus errichten will, sollte in unsere Stadt kommen und sich anschauen, wie das im Prinzip funktioniert. Die Stadt des alltäglichen Futurismus und der kommunalen Selbstverwaltung – irgendwann, wenn das Leben hier unerträglich geworden ist, wird man das historische Stadtzentrum zu einem Museum unter freiem Himmel erklären, sollte der Himmel dann noch frei sein, andernfalls wird man der Stadt eine große Glasglocke, ähnlich einem Sarkophag, verpassen, amerikanische und japanische Touristen herbringen und sagen: hier sehen Sie die mittelalterliche Sonnenstadt, die rot-blaue Sowjetkommune, von der Pest und der beschissenen Kommunalwirtschaft zugrunde gerichtet, die erste und einzige kanonische Hauptstadt der Himmelsukraine mit einer Bevölkerung von zwei Millionen Fabrikarbeitern und Studenten, die am stärksten entwickelten Zweige der Volkswirtschaft waren Maschinenbau, Raketen- und Militärtechnik, die spektakulärsten Architekturdenkmäler sind die Wassergräben und die Verteidigungsmauern um das Stadtzentrum herum, kommunistische Türme und Rammböcke, von denen aus die Dichter der Stadt die Manifeste der freien Ukraine verkündeten, nach denen unsere glückliche Zivilisation bis heute funktioniert. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dem Haus der Staatsindustrie, dem Gosprom, das in der Form eines Entrees zur Walhalla errichtet wurde, durch dieses Tor jagten die Bewohner ihre gefangenen Generäle geschlagener Armeen davon, hier führten ihre Prozessionen anläßlich des traditionellen Karnevals am ersten und neunten Mai hindurch. Das Prinzip der Zünfte und der hierarchischen Ordnung, nach dem die Bebauung der zentralen Stadtviertel Mitte, Ende der zwanziger Jahre erfolgte, bestärkt uns einmal mehr in der Idee von der kommunistischen und damit einzig wahren und über alle Zweifel erhabenen Dominante unserer Städte. Danach müßten die Stadtführer der Zukunft ausführlich auf die mittelalterliche Geschichte der Stadt eingehen, der Stadt als partieller Verkörperung kommunistischer und frühchristlicher Prinzipien, wie sie insbesondere in den mittelalterlichen Zünften und Gilden zum Ausdruck kommt, und sie müßten Parallelen zum Konstruktivismus der zwanziger Jahre ziehen. Wenn ihnen das gelingt, wenn die in ihrer Entwicklung in Folge aller zukünftigen Umweltkatastrophen zurückgebliebenen Amerikaner und Japaner das halbwegs kapieren, senkt sich das Himmelszelt um einige Yard ab und zerquetscht mit seinem massigen Bierbauch den gläsernen Sarkophag über unserer Stadt, und Tausende Schmetterlinge, die in den verlassenen und zerbombten Gemeinschaftswohnungen dieser herrlichsten aller Städte in ihren Kokons schliefen, flattern plötzlich durch die verkohlten Schießscharten und verteilen sich auf die jungen, neu errichteten Megastädte des guten alten Europa und des ebenso alten, aber schon weniger guten Amerika, wobei sie auf ihren federleichten Flügeln die Gute Nachricht und alltägliche Infektionen tragen.
Eine Gegend, in der ich längere Zeit lebe, prägt sich so oder so auf meiner Netzhaut ein, ich weiß, daß ich die Welt immer vor dem Hintergrund der Vorsprünge und Vertiefungen des Gosprom sehe, ich beurteile die Bebauungsperspektive der Siedlungen, auf die ich unterwegs stoße, immer danach. Die Intimität dieser unbeschreiblichen Gebäude in meiner Nähe, der eifersüchtige, emotionale Blick auf die Numerierung der Eingänge und die alten, nicht mehr aktuellen Aushänge an den Pförtnerhäuschen – gelb auf schwarzem Grund – haben mit einer geographischen oder topographischen Anhänglichkeit absolut nichts zu tun. Es ist eher eine Anhänglichkeit an das eigene Ich, eine Abhängigkeit von mir selbst, von der eigenen Erfahrung, die mich kein Stück losläßt und mich zwingt, immer und immer wieder an die Orte zurückzukehren, an denen ich mich unglaublich gut oder unglaublich schlecht gefühlt habe. Nur auf den ersten Blick scheint es, als hinge alles von Erinnerungen, von Assoziationen und Reflexionen ab, totaler Schwachsinn – diese schrecklichen Zahlen an den Häuserwänden rufen überhaupt keine Assoziationen in mir hervor und Reflexionen auch nicht. Es hat sich einfach so ergeben, daß ich nun mal
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