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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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sie haben es geschafft, uns alle für ihre Ziele einzuspannen und uns dazu zu bringen, ihre Politik zu machen, und so fing also mein verblichener, aber ungebrochen lebensfroher Bekannter dort auf dem Platz auch von Politik an, er erzählte Dinge, die mich im Grunde genommen nicht interessierten, die zweite Woche ging das nun schon so, von früh bis spät, manchmal sogar nachts. Wir unterhielten uns, und ich war mir unsicher – sollte ich ihm davon erzählen oder nicht? Vielleicht würde er dann wirklich sterben. Aber wenn ich es ihm nicht sagte – wer weiß, was dann mit ihm passieren würde. Wer weiß, was in zwei Jahren wäre. Vielleicht war er seinerzeit wirklich gestorben, und dann hat sich herausgestellt, daß das nicht tödlich ist. Als wir über alles geredet hatten, wünschte er mir viel Glück, ich sagte ihm, er solle nicht so rumtönen, und er wollte los. Eh, faßte ich mir schließlich ein Herz, warte mal. Was gibt's? er blieb stehen. Weißt du, eigentlich wollte ich's dir nicht sagen … Was denn? horchte er auf. Aber nicht, daß du gleich beleidigt bist, ich dachte, du seist tot. Hast du sie noch alle? fragte er verständnislos. Echt, sagte ich, irgend jemand hat mir erzählt, du seist gestorben, vor zwei Jahren. Ach wo, fing er an sich zu rechtfertigen, das ist ein Irrtum. Na, das dachte ich mir, sagte ich, dann machst du's bestimmt lange. Keine Ahnung, ob er mich verstanden hatte.
    Komisch, meistens verschwinden meine Kumpel von der Liste der Lebenden. Und hier war es genau umgekehrt – mein Bekannter konnte offenbar die Himmelskanzlei da oben austricksen und hat sich aus der Parteiliste der Leichen wieder ausgetragen. Ein gutes Zeichen.
     
    Wo ist er denn nun die ganze Zeit über gewesen? Irgendwer hat mir doch von seinem Tod erzählt. Er konnte unmöglich einfach so auftauchen, in unserem durchdachten und planmäßigen Leben tauchte nicht einfach etwas auf und verschwand wieder, das kann auch Genosse Lenin bestätigen, mit seiner Dialektik, wo ist er also gewesen? In meinem privaten Leichenschrank, dessen Schlüssel ich immer zusammen mit dem Fahrradschlüssel in meiner Tasche habe, wird es langsam eng, besser gesagt, es kommen ständig neue Bewohner, sie halten sich im stickigen Halbdunkel vor dem Licht und der frischen Luft verborgen, und nur ich kenne sie noch alle mit Namen, kenne ihre Gewohnheiten und Biographien, weiß, wie viel jeder einzelne für mein Leben bedeutet hat und wie wenig ich jetzt für sie tun kann, nachdem sie in das Reich der Schatten gewechselt sind, um für immer dort zu bleiben.
    Aber es ist doch nicht alles so schlecht, man kann also doch aus diesem hoffnungslosen Reich, aus diesem Reich der Schatten und Erinnerung zurückschlüpfen, indem man die Fototapeten wegreißt, durch die wir getrennt wurden. Vielleicht, wenn du wirklich willst und genügend Power hast, kannst du es dir erlauben, hin und wieder in den eisigen Grabesschatten zu steigen und daraus zurückzukehren, in die kalte Nachmittagssonne dieses osteuropäischen Herbstes, vielleicht ist nicht alles so hoffnungslos, wie es den meisten von uns scheint – denen, die niemals wirklich etwas riskiert und also auch nichts vorzuweisen haben. Er, mein Bekannter, hat es jedenfalls gepackt, ich weiß zwar nicht wie, aber bitte sehr – eben hat er noch vor mir gestanden und über Politik gesprochen. Ich habe sogar einen Zeugen, oder etwa nicht, Genosse Lenin?
     
3. Die Staatsindustrie und ihr christlicher Kern.
    Unsere Stadt wächst im Frühling mit Gras zu, die Himmel über ihr füllen sich dicht und kompakt mit Vögeln, die nach dem Winter aus Ägypten und Palästina zurückkehren, sie fliegen auf die flachen Dächer und unter die Torbögen des Hauses der Staatsindustrie, sie jagen die Luft über den Plätzen auseinander, verschwinden in den runden, grünen Bäumen, hocken dort, halten den Atem an, verstecken sich voreinander. Wenn man in dieser Zeit nach Charkiw kommt, kann man sehen, wie die Winterkälte aus den Häusern entweicht, wie die Haut der Architektur trocknet und sich nach einer langen Pause wieder belebt, denn nach dem Winter gleichen die Städte Jugendlichen, die nie wissen, was sie anziehen sollen – die Hälfte der Sachen ist zu klein, der Rest längst aus der Mode, ein netter, rührender Anblick, es vergeht nicht viel Zeit, ein paar warme, menschenleere Monate, die sommerliche Unbeschwertheit verfliegt, wie Kanäle laufen die Straßen wieder mit grauem, kalten Winterwasser voll, einem eisigen

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