Anarchy in the UKR
allerdings überlegt, was denjenigen dort erwartet, am Ende des Korridors – eine finstere Ecke, ein leeres Zimmer, chlorgereinigt, ein weißes, steriles Büro, in dem früh gealterte, vom Leben gezeichnete Beamte sitzen und in stiller Verzweiflung aus dem Fenster starren, auf die im morgendlichen Sonnenlicht badenden Straßen und Plätze, zu denen sie in Wirklichkeit nicht die geringste Beziehung haben. Außerdem denke ich, daß wir, obwohl sie und ich in die gleiche Richtung laufen, also von West nach Ost, und wir auch ungefähr dasselbe Tempo haben, an ganz unterschiedlichen Orten ankommen.
Wie nutzt du nun deine halbe Stunde? Mach schnell, die Zeit ist knapp, und nachher tut es dir leid, versuch wenigstens dieses eine Mal, deinen dreißigminütigen Vorsprung auszunutzen, du hast dich doch lange darauf vorbereitet, los, auf geht's – du läufst den langen Korridor im vierten Stock entlang, läufst in den dritten, vorbei an zwei Sekretärinnen, die starke Marlboro rauchen, und kommst an den Anfang eines langen, endlosen Korridors, so – hier irgendwo muß es sein, paß gut auf, daß du die richtige Tür erwischst, mach langsam und lausche, hinter einer Tür hörst du jetzt dieses krampfhafte Ringen nach Atem, das schwere Schlagen des großen, roten Herzens, verfettet und vom löslichen Kaffee zerstört, du kannst diese verzögerte endlose Arhythmie nicht überhören, die dir täglich vom Fernsehschirm oder aus den Werbespots im Radio entgegenschlägt, diesen dissonanten, verkrampften Herzschlag, der dir vertraut ist wie keinem andern – er ist es, der winters über die leeren Bahnsteige der nächtlichen U-Bahn hallt, er bringt dich um sechs Uhr morgens aus dem Takt, an seinen tödlichen Pausen lesen die Verkäufer in den Geschäften und die Verkehrspolizisten auf den Kreuzungen die Zeit ab, dieser Herzschlag ist unverwechselbar, das ist es, das ist das richtige Zimmer. Genau hier mußt du deine Bombe ablegen.
Während du auf dem Platz stehen bleibst, die Tauben fütterst, jemanden nach der Uhrzeit fragst, schaust du einem Flugzeug nach, das Richtung Grenze fliegt und einen breiten weißen Streifen hinterläßt, und wenn du dich anstrengst, kannst du sogar hier seinen Atem wahrnehmen, du spürst, wie schwer sich der Körper der Macht von einer Seite auf die andere wälzt, wie schwerfällig er seine tödliche Masse vom Boden losreißt und dort feuchte Spuren zurückläßt, mühsam holt er Luft, um dann wieder für lange Zeit zu erstarren, er versucht, gleichmäßig Luft zu holen, versetzt die abgestandene Zimmerluft in Schwingung und schlenkert unzufrieden mit seinen langen, schleimigen Tentakeln.
Nach einigen Minuten beruhigt sich die Atmung, die Tentakel erstarren, die Schweißdrüsen öffnen sich, und der feuchte Körper der Macht ist mitten im leeren Zimmer liegengeblieben, während du dastehst und von weitem die Fenster des Verwaltungsgebäudes betrachtest, das du vor einer halben Stunde verlassen hast. Das Gebäude zieht sich wuchtig von West nach Ost, regelmäßige, kalte Fensterreihen blinken in der Sonne, nur ganz wenige Fenster gekippt, vielleicht haben sie Angst vor der Zugluft, sitzen hinter rundherum abgedichteten und mit Papierstreifen verklebten Fenstern, diese zighundert Angestellten, die ganzen acht Stunden des Arbeitstages, und leiden an ihren Allergien und ihrem Asthma, sie sitzen in ihren leeren, kahlen Büros, halten den Atem an und lauschen den Atemzügen im dritten Stock, dem arhythmischen Schlagen des massigen kranken Herzens und verfolgen, wie sich dort, im abgeschlossenen Büro, der mit Fett und krankem braunem Blut vollgepumpte, bis ans Ende seiner Tage eingesperrte, träge, feuchte Körper der Macht schwerfällig von einer Seite auf die andere wälzt, und sein Herz schlägt gegen Ende des Arbeitstages gleichmäßiger und monoton, während auf der anderen Seite der Tür genauso gleichmäßig und monoton der von dir auf sechs Uhr eingestellte Mechanismus tickt.
8. Während ich den Pionierpalast für immer verlasse,
aus seinen Sälen und Zimmern in den fetten Abendschnee trete und überhaupt nicht damit rechne, noch mal herzukommen, zumindest nicht im nächsten halben Jahr, denke ich an die merkwürdige Zusammensetzung, an die wunderliche Verflechtung der Begriffe – der Pionierpalast, ein Zeichen, eine Ansichtskarte aus der Vergangenheit, aus der kollektiven Kindheit dieses Landes, ihrem kollektiven Gedächtnis. Die neue Ästhetik kann weder die Schrift ganz von den Giebeln
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