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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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Der Briefträger hatte Angst vor mir, ich war ein komischer Knabe, der seiner Ansicht nach über Gebühr ungeduldig auf die Post wartete, über Gebühr enttäuscht auf nicht vorhandene Briefe reagierte und die ausgehändigten Umschläge über Gebühr gespannt aufriß. Der Briefträger wurde nervös, wenn er mich sah. Wenn ich ihn sah, wurde ich auch nervös. Wir mochten uns nicht, das Jahr, seit ich aktiver Fan geworden war, hatte uns ausgelaugt und innerlich erschöpft, der Briefträger konnte nicht verstehen, wie man so dämlich sein kann, dasselbe dachte ich von ihm. Manchmal bekam ich eine Benachrichtigung und ging zur Post, um das Wimpelpäckchen direkt dort abzuholen. Der Briefträger saß in der Falle. Es gab kein Entrinnen. Am Abend hatte er mir eine Benachrichtigung gebracht und war schnell davon geradelt. Ich ging zu ihm nach Hause und forderte ihn auf, mir das Päckchen sofort auszuhändigen, denn es sei noch nicht spät, und gegen elf Uhr abends könne er wohl zur Post gehen und mir das Päckchen herausgeben. Der Briefträger freute sich klammheimlich, blieb aber äußerlich höflich und ruhig, als er mir mitteilte, die Post sei bis sechs Uhr geöffnet und nichts auf der Welt werde ihn dazu bringen, um elf Uhr abends zur Post zu gehen, und wenn man ihn erschießen sollte. Das hätte ich nur zu gern getan. Statt dessen ging ich nach Hause, und der Briefträger schloß blitzschnell die Tür hinter mir, rannte zum Fenster und sah mir verschreckt nach. Am nächsten Morgen traf ich ihn an der Post, er bemerkte mich schon im Heranfahren, machte einen Bogen und wollte kehrtmachen, er riß sich aber zusammen, grüßte beherrscht, schob das Fahrrad auf den Treppenabsatz und öffnete das Vorhängeschloß. Ich trat hinter ihm ein und bekam gleich Herzklopfen – der Postgeruch stieg mir in die Nase, das war der echte Poststellengeruch, ein besonderer Geruch, ich erinnere mich daran und bekomme gleich wieder Herzklopfen, das ist mein Kindheitstrauma: jemand hat seine Eltern beim Sex erwischt, ein anderer ist ins Bad gekommen und hat dort seine ältere Schwester oben ohne stehen sehen, jemand ist in seiner Kindheit von grausamen Pionierleitern vergewaltigt worden, und ich kam auf die Post, und das war’s – mein Leben brach zusammen und ging zum Teufel, gierig atmete ich den Geruch nach Silikatleim, frischen Zeitungen und Siegellack ein, die dunkelroten Lackklumpen leuchteten auf den Päckchen wie Sonnen; ich stand verzaubert in dem kleinen Postraum, hinter dem Ladentisch sah mich der Briefträger erschrocken an, er wollte, daß ich so schnell wie möglich verschwand und ihn mit seinen Neurosen allein ließ, aber ich hatte es nicht eilig, ich stand da und wußte, daß das Leben phantastisch war und eine glückliche Zukunft vor mir lag, daß ich einen Plan und ein Ziel für mein Leben hatte, daß ich das Ziel auf jeden Fall irgendwann erreichen würde und niemand, überhaupt niemand, nicht einmal dieser Briefträger, mich daran hindern konnte. Ich nahm mein Päckchen und ging nach Hause, noch eine Weile rochen meine Hände nach Siegellack. So riecht Freude.
    Ein Jahr später hatte ich vom Fußballfansein genug und verbrannte alle meine Programme und Wimpel.
    Ein weiteres Jahr später lernte ich einen interessanten Typen kennen, Schura. Schura hatte, soweit das unter unseren ländlichen Bedingungen möglich war, die dicke Kohle und alle Voraussetzungen, um Alkoholiker zu werden, was unter unseren Bedingungen weitaus häufiger ist. Mich fand er sympathisch, nannte mich Lenin, weil ich, sagte er, so gescheit sei wie Lenin, ich wehrte mich nicht, wir hatten nichts gegen Lenin. Und mit diesem Schura hängt folgende Postgeschichte zusammen.
    Als mein Fanfieber erloschen war, ließ auch mein Interesse an der Post als solcher, an der Post als Gegenstand, als Nervenzentrum meiner kindlichen Angst und Anspannung merklich nach. Schura wiederum erhielt dort ab und zu Überweisungen, er hatte einen Großvater in Kiew, der ihn verwöhnte, ihn sich aber vom Leibe halten wollte. Gelegentlich schickte er Schura ein paar Scheinchen. Seine Eltern erfuhren davon nichts, und Schura brachte das Geld in der ersten privat geführten Grillbude der Stadt durch, hin und wieder nahm er mich mit. Und als er mal wieder die Mitteilung von einer Überweisung erhalten hatte, machte er sich fertig, zog seinen protzigen neuen Trainingsanzug von Adidas an, die waren damals in Mode, nahm seinen Kassettenrecorder, schlüpfte in sein teures Jackett und

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