Anarchy in the UKR
im Morgentran, voll von glatzköpfigen Lehrkräften, die zu den Aufständischen übergelaufen waren, von albanischen Putzfrauen, die versuchten, Ordnung zu schaffen, und von ganz zufälligen Liberalen, die wie immer nichts zu tun hatten. Studieren wollte keiner. Die Leute schlenderten über die Flure, saßen im Café, tranken Automatenkaffee, rauchten in den Telefonzellen Haschisch, teilten sich mit den Polizisten eine Pizza und sangen Revolutionslieder. Ich weiß nicht einmal, ob sie sich mit ihren Forderungen durchgesetzt haben, wahrscheinlich schon, denn irgendwann beruhigte sich die Universität, und die Studenten kehrten in die Hörsäle zurück. Aber nicht für lange – dann begann die amerikanische Invasion in Afghanistan, und die Studenten gingen wieder auf die Straße. Durch die Seminarräume strich ein frischer Frühlingswind.
Die Uni ist für so etwas der ideale Ort. Ein besserer Ort läßt sich nicht finden, im Hinblick auf das Verwaltungssystem und das Gefühl der studentischen Solidarität sollte genau hier der heroische und verzweifelte Überlebenskampf stattfinden. Darüber denke ich oft nach, wenn ich die Universität Charkiw sehe. Wie viele Studenten gibt es da? Zehntausend? Was treiben sie, warum gehen sie nie auf die Straße und sagen, was sie über das Bildungssystem denken oder über das System oder einfach nur, was sie denken. Sie werden doch etwas denken, es kann doch nicht sein, daß sie da fünf Jahre brav irgendwelchen Schwachsinn über Quantenmechanik konspektieren und dann das ganze Leben lang in Erinnerungen an die warmen und ruhigen Seminarräume schwelgen, in denen sie fünf Jahre lang den klebrigen, genau zugeteilten Kaugummi der Hochschulbildung durchgekaut haben. Warum sagen sie nie etwas? Sie sind doch zu Zehntausenden. Zehntausend! Zehntausend – das ist eine ganze Kreisstadt, zehntausend – so viele hatte Machno zu den besten Zeiten in seiner Armee. Warum lassen sie sich die ganze Zeit wie Kanonenfutter behandeln, gehen auf Geheiß zu Kundgebungen und Konzerten, lassen sich in Wohnheimen und Labors einpferchen, während draußen, auf der Straße, die interessantesten und abenteuerlichsten Dinge des Lebens, das Leben selbst vor sich geht.
Das hat ihnen keiner beigebracht, na gut, versteh ich, aber was gibt es da groß beizubringen? Die Sache ist ganz einfach: Eines Tages gibt der Rektor einen neuen drakonischen Erlaß heraus, daß zum Beispiel die Preise für das Mensaessen angehoben oder daß die Nudeln von jetzt ab nur noch auf Marken ausgegeben werden, also irgendwas Schreckliches, Inhumanes, er macht das nicht aufgrund fehlender Moral, sondern eher aus Überzeugung, mit anderen Worten, der Präsident stellt den Minister an, der Minister den Rektor, der Rektor führt die Nudelmarken ein, und so entsteht die Diktatur. Die Studenten kommen am Morgen in die Mensa und sehen sich mit einer neuen schrecklichen Ungerechtigkeit konfrontiert – ihre geliebten Nudeln, das einzige, was sie sich hier leisten konnten und was sie einigermaßen auf den Beinen hielt, gibt es jetzt nur noch auf Marken! Und jetzt (das ist der wichtigste Moment, Achtung!) sagt jemand, irgend jemand, kein Aktivist und schon gar kein Vertreter der national-demokratischen Bewegung, sagt: Hört mal, Leute! Leute, sagt er, hört mal gut zu – hört ihr was? Nein? Richtig, ich höre auch nichts. Und wißt ihr, warum? Weil keiner von uns etwas sagt, wir stehen einfach schweigend da und protestieren noch nicht einmal, regen uns noch nicht einmal auf, wo uns doch das Allernötigste genommen wird. Ich meine die Nudeln. Wir sagen nichts und protestieren nicht, wenn sie uns wie Kanonenfutter behandeln, uns in Wohnheime und Labors sperren, während dahinter (er zeigt auf die Mensatür) die wirklich interessanten und abenteuerlichen Dinge vor sich gehen, dort (zeigt er wieder) spielt sich das Leben ab! Und uns stopfen sie derweil die Köpfe mit dieser scheiß Quantenmechanik voll! Und da, nach den Worten über die Quantenmechanik, geht durch alle ein Ruck. Alle beginnen zu schreien und Gerechtigkeit zu fordern, fürs erste besetzt der Studentenrat, die Kampftruppe sozusagen, die Mensa, auf das Geschrei hin kommen die Wachleute angerannt, kriegen aber eins auf den Deckel. Skandierend trägt die Masse die Wachleute auf ihren Schultern hinaus, überrennt den Eingangszaun (in einer normalen Universität sollte es überhaupt keinen Eingangszaun geben) und kippt die Wachleute am Denkmal für den Gründer der Universität, den
Weitere Kostenlose Bücher