Anarchy in the UKR
irrte nur herum und zwirbelte seine weiße Schnurrbarthälfte.
Auf einmal war er verschwunden. Lange fragte ich seine Jünger aus, wo ist denn dieser, na, euer Guru, warum predigt er nicht mehr den Vögeln und Fischen, aber sie lächelten nur unbestimmt und verdrehten die Augen. Endlich rückte einer mit der Sprache raus. Die Geschichte war eher tragisch als lehrreich. Einmal, während einer weiteren Sitzung zur Rettung der jungen, noch nicht ganz verlorenen Seelen, verspürte der alte Albino plötzlich ein Bedürfnis, ein großes Bedürfnis, würde ich sagen, in der direkten Bedeutung dieses Wortes. Da er nicht von hier war, wußte er nicht, wo er diesem Bedürfnis nachkommen konnte. Die Meinung seiner Herde ging auseinander – einige schlugen vor, den Guru zur kostenpflichtigen Toilette hinter dem Polizeirevier zu bringen, andere sagten, das Revier solle man meiden, besser nichts riskieren und in den Pionierpalast gehen. Nach kurzer Beratung setzte sich die Gemeinde in Bewegung. Aber es stellte sich heraus, daß der Pionierpalast sich in diesen aufregenden Tagen zum Territorium des Friedens erklärt hatte und niemanden vom Majdan einließ. Der Guru wurde nervös, die Herde zerfiel endgültig, derjenige, der als erster vorgeschlagen hatte, zum Pionierpalast zu gehen, wurde bloßgestellt und verstoßen. Der Guru appellierte an das Gewissen seiner Jünger, diese wurden langsam ärgerlich, beratschlagten erneut und brachten ihn ins Hotel Charkiw, wo sich im dritten Stock, ganz am Ende des Flurs, kostenlose Toiletten befanden, das muß man aber wissen. Sie wußten es. Was sie nicht wußten, war, daß die Toiletten zwischen eins und zwei zum Putzen geschlossen werden. Der Guru blieb standhaft, wie sich das für einen tüchtigen Hirten gehört. Es war wohl einfach nicht sein Tag. Die genervten Jünger nahmen noch einmal Rücksprache und beschlossen, nun doch zur Toilette bei der Polizei zu gehen, schließlich konnte man den Guru in diesem Zustand nicht einfach so allein lassen, dachten sie, nicht allein lassen, nicht allein lassen, gab er ihnen in Gedanken recht. Sie gingen zum Fahrstuhl. Mußten lange warten. Brauchten lange, um sich hineinzuquetschen. Endlich drückte einer auf den richtigen Knopf, und der Fahrstuhl fuhr los.
Der Guru hielt es bis zum ersten Stock aus. Als der Fahrstuhl die erste Etage passiert hatte und der ersehnte Moment der Erleichterung schon greifbar nahe war, wich die Kraft des Geistes von ihm, und er erlebte so ziemlich das größte moralische Fiasko seines Lebens. Vom physiologischen Fiasko ganz zu schweigen. Als der Fahrstuhl im Erdgeschoß ankam, war er alle seine Jünger los. Danach wurde der Fahrstuhl übrigens lange nicht mehr benutzt.
Ich sagte ja schon, daß die Geschichte eher tragisch als lehrreich ist. Denn was kann man aus solchen Geschichten lernen? Was lernen die Haupthelden selbst daraus? Die Welle verebbt, der Kreis zerfällt, die Helden der Straßenbewegung ziehen sich in ihre Schlupfwinkel zurück und warten auf die nächste Gelegenheit, Galle und den festtäglichen Revolutionsabschaum auszuspeien, der Albinoguru kehrte in irgendeines dieser nördlichen Waldklöster zurück und erzählt jetzt an langen Winterabenden seinen skeptischen Brüdern von dieser merkwürdigen, südlichen Stadt, in der ihm eine bunte Schar jugendlicher Jünger gefolgt ist, in der die Fahrstühle in den Hotels so langsam sind wie der Tod am Kreuz, wo inmitten der Stadt der strenge, akkurate Schewa steht und dem Weltkapitalismus sein hartes, proletarisches Fuck off entgegenschleudert.
6. Rolling Stones für die Armen.
Über Platten weiß ich alles. Mit ihren eingeschnittenen Tracks, in Hüllen verpackt, die unberührt sind wie ein verschneites Feld voll schwarzem, verharschtem Schnee, riecht eine Platte nach Feuer und Eisen, nach Synthetik und Chemie, wenn du sie herausgeholt hast, zuerst aus der äußeren Papphülle, dann aus der inneren, nimmst du sie vorsichtig zur Hand und hältst sie gegen das Licht, du siehst, wie sich der Staub auf ihre zerbrechliche Oberfläche setzt, die Sonne die schmalen Rillen entlangläuft wie Athleten in einer der vier Stadionbahnen, die keinen Anfang und entsprechend auch kein Ende haben. Wenn die Platte warm wird, verformt sie sich und verliert ihre Elastizität, jeder scharfe Gegenstand gräbt in sie seine Spuren ein wie in Tafelbutter, sie zerbricht wie Porzellan, das in der Restaurantküche zu Boden fällt. Wenn eine Platte ins Feuer gerät, zerfließt sie und
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