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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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des Dichters, wie unbegreiflich es auch scheinen mag, am besten solch merkwürdige und auf den ersten Blick ungeeigneten Figuren wie die Rotgardisten und Komsomolzinnen, die ihn umgeben, die er zurückweist, indem er seinen gestählten revolutionären Body brüsk abwendet und mit der Hand eine eindeutige Geste macht – als wollte er jeden Moment die geballte Faust hervorschnellen lassen und sich mit der flachen Hand auf den Arm schlagen – hier, für alle Rotarmisten und Komsomolzinnen dieser riesigen Stadt, nehmt mein persönliches Vermächtnis in Empfang, mein wildes, unbesiegbares Fuck, und alles andere erfahrt ihr von meinen Freunden, das war’s, dann wendet er sich zu dem Rotarmisten mit der Bombe, ich bin fertig, kannst werfen. Du kannst nie vorhersehen, wer im entscheidenden Moment neben dir stehen bleibt, welches Publikum auf deinen gereimten Aufruf zum Regimesturz reagiert. Die Rotarmisten und Komsomolzinnen sehen an seiner Seite ganz natürlich aus, zumindest fragst du dich nicht, welchen gesammelten Werken sie entsprungen sind, hier ist der richtige Platz für die Deklassierten und Aggressiven. Denn wen sollen sie sonst unterstützen, wenn nicht Schewa, überlegt mal.
    Seinerzeit, im fernen Jahr 1919, hatten die Anarchisten die Stadt eingenommen, für kurze Zeit, bis die Roten kamen. Es wird erzählt, sie hätten im Hotel Astoria eine Kanone aufgestellt und begonnen, wie besessen die angrenzenden Straßenzüge zu beschießen. Diese Geschichte mit der Kanone finde ich wesentlich attraktiver als alle pazifistischen Kreistänze um das Lenin-Denkmal. Wenn du schon ein Revolutionär sein willst, dann bring deine Kanone in Stellung und feuere los, selbst wenn es nichts Besonderes zu beschießen gibt, trotzdem, das Wichtigste ist, daß du aufhörst, Quatsch zu machen und endlich Dinge tust, für die du auch die Verantwortung übernehmen mußt.
    Straßenaktionen ziehen jedenfalls ein opportunistisches Publikum an, das auf den Klang der Revolutionstrommel und den Adrenalingeruch hin aus seinen Löchern kriecht und all die pathetischen, im Stab geplanten Lustbarkeiten in einen Riesenzirkus verkehrt, in einen bunten Narrenzug, eine Hitparade des Opportunismus der Straße, wer schießt schon auf einen schrillbunten Demonstrationszug aus Narren und Propheten. Natürlich sind das nur Einzelne, aber sie fallen am meisten auf, sie sorgen für die Stimmung. Man kann beobachten, daß sie auch als erste verschwinden. Das ist übrigens auch ein interessantes Thema: wie sich in ihrer – ähnlich alten Kassettenrecordern ramponierten – Seele die revolutionären Ereignisse niederschlagen, ob sie sie verändern, und wenn ja, in welche Richtung?
    Die merkwürdigen und aufgemischten Leute kamen von überall her, gingen die Straßen entlang, man sah ihnen an, daß das normale, zivilisierte Leben nichts für sie war, daß es sie niederdrückte und aller Energie beraubte, je mehr alltägliche Hysterie, um so besser für sie, das war ihre Zeit, darauf hatten sie ihr Leben lang gewartet. Bleibt nur noch, sich für sie zu freuen.
    Er tauchte an einem sonnigen Morgen auf, trat hinter dem Hotel hervor und kam breit lächelnd auf uns zu. Er fiel schon von weitem auf, er sah aus wie ein Punk, der lange in Behandlung gewesen war, und zwar stationär, und daß er einen Priesterrock trug, unterstützte nur seine Punknatur, er sah jedenfalls überhaupt nicht wie ein Priester aus, vielleicht wegen dem Augenausdruck. Sein Gesicht war voll daneben, er schielte stark, und die eine Hälfte seines Schnurrbartes war weiß. Ein Albinopunk im Priesterrock. Sofort begannen sich Menschen um ihn zu scharen, sogar in dieser Situation, als man mit dem Aussehen niemanden mehr beeindrucken konnte, weckte er bei den Charkiwern und den Gästen der Stadt lebhaftes Interesse. Woher kommst du? fragte ich ihn. Aus Rußland, antwortete er und lächelte. Aha, sagte ich, Moskauer Patriarchat? Ist doch egal, antwortete er, ich mach mein eigenes Ding. Alles klar, sagte ich, aber agitieren ist hier nicht. Und er blieb.
    Er fühlte sich sicher und ruhig, versammelte Skinheads und Tolkienisten, Penner und Provokateure um sich und predigte ihnen wie Jona den Fischen. Die Penner und Provokateure hörten ihm zu, und atmeten bezaubert durch die Kiemen ein und aus. Er war in Begleitung einiger besonders fanatischer Tolkienisten. Wahrscheinlich hatten sie ihm ein paar Pillen verabreicht, jedenfalls waren alle in gehobener Stimmung. Er betrieb in der Tat keine Agitation,

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