Anarchy in the UKR
verschlingt alles Lebendige wie ein Ölteppich nach einem Tankerunglück, sie verströmt dicken, schwarzen Qualm und duftet nach chemischem Zerfall. Der Tod der Platten ist grausam, ihr Leben leicht.
Als Jugendlicher habe ich hier Stunden verbracht, der Plattenladen, der sich im Kellergeschoß des gerade fertiggestellten Opernhauses befand, war der Ort, wo ich ohne weiteres bereit gewesen wäre zu sterben – inmitten von Schallplatten, die für mich unerschwinglich waren. In gewisser Weise hat sich das auf mein Verhältnis zur Oper und auch zum Ballett ausgewirkt. Mein ganzes diesbezügliches Interesse beschränkte sich auf das umliegende Kellergeschoß, das mit Tausenden neuer Platten vollgestopft war, was sollte ich noch mit Ballett? Ich dachte, daß ich alles über Platten wüßte, obwohl ich gar nichts wußte, das Wissen wurde von meiner Liebe und meinem Eifer ersetzt, aber weit kam ich damit nicht, wie sich bald herausstellte.
In meiner down town war kein Gebäude zufällig, irgendwer hatte jedes einzelne sorgfältig und genau ausgewählt, so daß es zu jedem irgendwelche Geschichten und Episoden gab, und wenn man jetzt auch nur ein Gebäude einrisse, bräche das Gesamtbild auseinander, klaffende Löcher würden die umliegende Leere in Staub verwandeln. Tag für Tag dieselben Gebäude sehen, hineingehen, lange darin herumlaufen, langsam ihr Innenleben verstehen, sich an die Höhe und die Dunkelheit der Korridore gewöhnen, an das schwere Quietschen der Eingangstüren, an die Fensterbretter und Steckdosen, an die Bänke auf den Fluren und die Teppiche auf den Treppen – meine down town bedeutet mir viel mehr, als man vermuten würde, ich weiß alles über die Gebäude, zumindest alles, was ich wissen muß.
Die Oper zum Beispiel, mit ihren benachbarten Cafés und Geschäften, einem Kino und den Kassen, mit einem kleinen Platz, wo die Skateboardfahrer auf ihren Brettern stehen wie die Zinnsoldaten auf ihrem Untersatz und alte Junkies überspielte Kassetten verkaufen, die Erinnerungen, die die Oper bei mir hervorruft, sind besonders traurig und lyrisch, logo, dabei geht es nicht um die Musik, die Musik hat damit nichts zu tun, hier geht es um intimere Sachen. Meine Freunde zum Beispiel. Von meinen Freunden hatte noch nie einer was für Ballett übrig, ich glaube, ich brauche nicht zu erklären, warum. Ballett haben sie nicht mal im Fernsehen angeschaut, erstens weil im Fernsehen selten Ballett gezeigt wird und zweitens: woher hätten sie einen Fernseher nehmen sollen? Klare Sache, Kommentar überflüssig. Aber bei aller Abneigung, einer Abneigung, die, wenn nicht prinzipiell, so doch immerhin konsequent war, gibt es eine Geschichte, die direkt mit Ballett zu tun hat. Einmal, es muß 1992, vielleicht auch 1993 gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr genau, sollten meine Freunde und ich einen kollektiven Ballettbesuch absolvieren. Da lief gerade der Monat der ästhetischen Erziehung oder so was Ähnliches. Die Sache ließ sich nicht aufs Operncafé beschränken, am Eingang gab es eine Gesichtskontrolle, die war mit Blick auf das Niveau unserer ästhetischen Erziehung besonders streng. Wir mußten hin. Aber wahrscheinlich wegen unseres inneren Widerstands war der Ballettbesuch eine echte Pleite. Uns fehlte die richtige Reife. Wir saßen in einer Kneipe auf dem Swoboda-Prospekt (Betonung auf der ersten Silbe, denn es ging nicht um »Swoboda« – »Freiheit« im philosophischen Sinn, sondern um den tschechischen General Swoboda, ich glaube, er war General, tut aber nichts zur Sache) und zögerten – wir hatten keine Wahl, niemand hatte uns nach unserer Meinung zum Monat der ästhetischen Erziehung gefragt, und das völlig unberechtigt, denn wenn wir zu einer Sache einen klaren und prinzipiellen Standpunkt hatten, dann zum Monat der ästhetischen Erziehung, aber man trieb uns in die Ecke und beäugte uns streng, und mit achtzehn findest du es besonders ätzend, dich wie eine Ratte zu fühlen, die an die Wand gequetscht wird, oder etwa nicht? Um so mehr, wenn du schon drei Stunden in einer Kneipe auf dem Swoboda-Prospekt gesessen hast, auch wenn der mit dem philosophischen Begriff der Freiheit nichts zu tun hat, es ist trotzdem ätzend. Es blieb noch eine halbe Stunde. Wieder einmal siegte der Konformismus, wir beschlossen loszufahren. Aber das sagt sich so leicht: beschlossen loszufahren. In unserem Zustand war es gar nicht so leicht loszukommen, die Kneipe zu verlassen und ein Taxi anzuhalten, nicht weniger
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