Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Jurotschkas Mitteilungsheft aus. Sich selbst sah Marzew nicht auf dem Bildschirm, doch er wußte, daß er gegenüber der Mutter am Tisch saß und mit Grauen darauf wartete, daß sie die Seite mit dem langen Eintrag in roter Tinte aufschlug, der Mitteilung seiner Lehrerin. Da, Mama liest es, ihre Brauen ziehen sich zusammen, die Lippen verzerren sich verächtlich, das Gesicht wird eisig. Auf dem Tisch, zwischen Teekanne und Brotkorb, liegt das große Messer. »Ich hasse sie! Ich habe Angst vor ihr, und ich hasse sie! Gleich bring’ ich sie um!« Jurotschka brach aus, Marzew konnte ihn nicht mehr halten und verfolgte gebannt, wie dieses kleine Monster seine Gier stillte. Das Kind schmiegt sich an die Mutter, bittet um Verzeihung und verspricht, es nie mehr zu tun. Die Miene der Mutter wird sanft, sie ist bereit, dem herzallerliebsten Sohn zu vergeben, und sieht nicht das Messer hinter seinem Rücken.
Großaufnahme – der schöne lange Hals, die blinkende Klinge und Blut. Viel Blut. Sehr viel. . . Schluß. Katharsis. Marzew konnte sich noch genau an das Gefühl des warmen Blutes erinnern, wie es in Strömen über seine Hand floß. Jedes Mal, wenn er sich das Video ansah, kehrte dieses Gefühl zurück und überzeugte Jurotschka endgültig davon, daß er ES getan hatte. Danach rollte sich der kleine Mörder zu einem Knäuel zusammen und schlief ein, bis zum nächsten Mal.
Völlig entkräftet fiel Marzew im Sessel zurück. Er hatte es wohl noch einmal geschafft. Doch das befreiende Gefühl war heute nicht ganz so stark wie früher. Jurotschka schien nicht, wie sonst, richtig eingeschlafen zu sein, sondern nur zu schlummern. Marzew dachte darüber nach, daß die Abstände zwischen den Anfällen von Mal zu Mal kürzer wurden. Früher war Jurotschka alle zwei, drei Jahre aufgewacht, dann einmal im Jahr, doch zwischen dem letzten Anfall und dem heutigen lagen nur vier Monate. Die Krankheit schritt voran, soviel war Marzew klar. Na ja, beschloß er, dann muß wohl ein neues Mittel her. Und er wußte welches. Gleich morgen würde er sich darum kümmern.
Kapitel 1
TAG EINS UND ZWEI
Ich bin ein moralisches Monstrum, ohne normale menschliche Gefühle, dachte Nastja Kamenskaja verzweifelt, während sie auf dem Kurpfad gewissenhaft die vom Arzt angeordneten Runden drehte. Sie war zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Sanatorium und hatte beschlossen, die Kur ›mit Vollprogramm‹ zu absolvieren, zumal die Bedingungen hier in der ›Doline‹ mehr als luxuriös waren.
Natürlich hätte sie niemals einen Platz in diesem edlen Sanatorium bekommen, wenn sie den Urlaub selbst hätte organisieren müssen. Im besten Falle hätte man ihr, einer Mitarbeiterin der Moskauer Kripo, einen Kuraufenthalt im behördeneigenen Sanatorium angeboten, ohne Schwimmbad, und Heißwasser auch nur zu bestimmten Zeiten.
Nastja war kein Naturmensch, sie verbrachte ihren Urlaub gewöhnlich zu Hause in Moskau, um Übersetzungen aus dem Englischen oder Französischen zu machen. Dadurch konnte sie ihre Finanzen etwas aufbessern und zudem ihre Sprachkenntnisse auffrischen. In diesem Jahr wäre ihr Urlaub laut Dienstplan im August fällig gewesen, doch ihr Dezernatsleiter, Viktor Alexejewitsch Gordejew, den seine Leute zärtlich Knüppelchen nannten, hatte Nastja gebeten, mit einem Kollegen zu tauschen, dessen Frau unerwartet gestorben war.
»Du weißt doch, Anastasija, er braucht den Urlaub, wenn seine Tochter Schulferien hat. Und dir ist es doch egal, ob August oder Oktober, du bleibst doch sowieso in Moskau. Wie wär’s, wenn ich dir ausnahmsweise mal einen Platz in einem guten Sanatorium beschaffe?«
»Wäre nicht schlecht«, meinte Nastja und war über ihre Antwort selbst überrascht. An gesundheitlichen Beschwerden hatte sie eine ganze Palette zu bieten, und noch nie hatte sie ernsthaft etwas dagegen unternommen.
Gordejews Schwiegervater, Professor Woronzow, leitete ein großes Zentrum für Kardiologie, und mit seiner Hilfe brachte Viktor Alexejewitsch Nastja in der ›Doline‹ unter. Es war wirklich ein hervorragendes Sanatorium, das in früheren Zeiten für Parteifunktionäre reserviert gewesen war und aus unerklärlichen Gründen die Reformzeit gut überstanden hatte. Allerdings war dieser Kuraufenthalt so teuer, daß sich vor Nastja ein neues Problem auftat. Das Loch in ihrem Budget konnte sie nur mit Übersetzungshonoraren schließen und auch nur, wenn sie im Urlaub gehörig ranklotzte. Doch dazu müßte sie Wörterbücher und eine
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