Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Prolog
EINEN MONAT VOR TAG EINS
Der Anfall kam, unerbittlich. Erste Symptome hatte Jurij Fjodorowitsch Marzew bereits am Abend zuvor verspürt, sich jedoch auf die heilsame Kraft des Schlafes verlassen. Das Schlafen aber hatte nicht geholfen. Am darauffolgenden Tag ertappte sich Jurij Fjodorowitsch mehrmals dabei, wie er versuchte, jede Diskussion mit den Schülern auf das Thema Eltern und Söhne, genauer gesagt Mutter und Sohn zu lenken. Das nächste Stadium setzte nach dem Mittagessen ein, als jedes kleinste Wort über Eltern, und besonders über Mütter, eine physisch spürbare, schmerzende Gereiztheit in ihm hervorrief, und Marzew mußte sich zusammenreißen, um seine Gesprächspartner nicht zu unterbrechen, nicht ausfallend zu werden, sie nicht anzuschreien. Und jetzt, gegen Ende seines Arbeitstages, hatte er begriffen, daß der Anfall unausweichlich war, daß Jurotschka erwachte und jeden Moment aus vollem Halse losbrüllen konnte.
Marzew griff zum Telefon.
»Galina Grigorjewna, könnten wir unser Gespräch nicht vielleicht auf morgen verschieben? Mir ist nicht gut, ich möchte mich hinlegen.«
»Aber natürlich, Jurij Fjodorowitsch«, meinte die Mathematiklehrerin bereitwillig. »Wir werden mit Kusmin schon seit sechs Jahren nicht fertig, da kommt es auf einen Tag auch nicht mehr an. Gute Besserung.«
»Danke.«
Ja, Kusmin war ein Problem. Sämtliche Lehrer beschwerten sich über ihn. Als Einserschüler in allen Fächern hatte Wadik Kusmin nie Anlaß gegeben, ihn wegen schlechter Leistungen von der Schule zu weisen. Doch in allem übrigen, vom Betragen in der Klasse bis hin zum frechen, bösartigen Verhalten daheim, zeigte er sich als unübertreffliches Biest, wobei er jedoch kein einziges Mal jene Grenze überschritt, hinter der juristische Konsequenzen drohen. Verleumdung und üble Nachrede werden bekanntlicherweise auf Klage des Betroffenen hin verfolgt. Aber hat man jemals einen Lehrer gegen einen Siebtklässler vor Gericht ziehen sehen? Außerdem konnte man für solche Vergehen laut Gesetz erst mit achtzehn belangt werden. Morgen, dachte Marzew, während er nervös seinen Mantel zuknöpfte, alle Probleme werden wir morgen lösen. Heute ist das Wichtigste – Jurotschka. Füttern, wickeln, hinlegen, zum Schlafen bringen. Hauptsache, es kommt nicht zum Äußersten!
Jurij Fjodorowitsch Marzew war seit langem krank, unheilbar krank. Allerdings wußte nur er allein davon. Na ja, vielleicht wußten es noch ein, zwei andere, aber deren Meinung interessierte Marzew nicht. Er war für alle nur der hochgeschätzte Direktor einer englischsprachigen Schule, Lehrer für angelsächsische Literatur. Für seine Frau war Jurij Fjodorowitsch durchaus kein schlechter Ehemann, für seine Tochter ein ›pädagogisch korrekter‹ wenn auch etwas altmodischer Vater. Und für seine Mutter war er Jurotschka, der geliebte und von dieser absoluten Liebe zur Verzweiflung getriebene einzige kleine Sohn.
Marzew fuhr in die Wohnung, die er sich zu einer recht günstigen Miete ohne Wissen seiner Familie zugelegt hatte: Eine winzige, seit langem nicht mehr renovierte Wohnung, spärlich möbliert und draußen am Stadtrand gelegen. Bisweilen brachte Jurij Fjodorowitsch Frauen mit hierher, doch vor allem diente dieser Zufluchtsort der Behandlung seiner Krankheit, was er in letzter Zeit immer häufiger nötig hatte.
Er betrat die Wohnung und zog hastig seinen Mantel aus. Seine Hände zitterten so, daß er den Mantel nicht auf den Haken brachte, zornig schleuderte er ihn auf den Stuhl. Jurotschka drängte heraus, er war voller Haß auf die Mutter und wollte sie augenblicklich töten. »Gleich, gleich, mein Kleiner«, murmelte Jurij Fjodorowitsch, »gleich wirst du ruhiger, halte noch eine Minute aus, nur noch eine Sekunde . . .«
Er bewegte sich fast mechanisch, holte aus einem Geheimversteck eine Kassette, schob sie in den Videorecorder und rückte den Sessel vor den Fernseher.
Schon bei den ersten Bildern wurde ihm ein wenig leichter, doch Marzew stellte fest, daß die Musik, die bisher noch jedesmal Wirkung gezeigt hatte, diesmal nur schwach anschlug. Er fürchtete, das Heilmittel könnte seine Kraft verloren haben, doch ein paar Minuten später war alles wie früher. Auf dem Bildschirm tauchte das wunderschöne Gesicht der Mutter auf, wie es vor fünfunddreißig Jahren ausgesehen hatte. Marzew war damals erst acht. Die Mutter läuft durchs Zimmer, verteilt Tassen auf dem Tisch, schenkt Tee ein, dann streckt sie die Hand nach
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