Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
verloren. Wir können nichts mehr für ihn tun. Aber er hält sich sehr gut, ist noch bei Bewußtsein und hat sogar mit dem Ermittlungsbeamten gesprochen. Kaum hatte man ihn eingeliefert, war auch die Miliz schon da. Aber Sie gehören nicht zu denen, habe ich das richtig verstanden?«
»Nein, ich komme aus anderen Gründen. Er ist mein Freund.«
Im Zimmer war es hell und sonnig. Aus irgendeinem Grund schien ausgerechnet heute zum ersten Mal seit Wochen die Sonne. Warum heute? fragte Nastja sich wie aus weiter Entfernung zu sich selbst. Warum scheint ausgerechnet an dem Tag, an dem er stirbt, die Sonne? Irgendein seltsamer Unsinn.
In dem großen leeren Krankenzimmer wirkte das kleine Männchen noch kleiner. Nastja sah ihn zum ersten Mal ohne Mütze, sah zum ersten Mal, daß er langes dunkles Haar hatte, das am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Die eingefallenen Schläfen und hervortretenden Backenknochen waren aschfahl und von kleinen Schweißperlen bedeckt. Nastja warf einen Blick auf die Krankentafel am Fußende des Bettes, und ihr blieb das Herz stehen. Am oberen Rand der Tafel stand in großen, deutlich lesbaren Buchstaben: Sergej Eduardowitsch Denissow.
Der ehemalige Sträfling und Virtuose der russischen Morphologie.
Der »Goldjunge«.
Der Sohn von Eduard Petrowitsch Denissow.
Sie trat näher an das Bett heran und nahm Bokrs Hand.
»Sergej«, sagte sie. »Serjosha.«
Er öffnete die Augen und versuchte zu lächeln.
»Tut mir leid«, flüsterte er kaum hörbar. »Es war ein anderes Auto . . . ich habe es zu spät gemerkt. Tut mir leid.«
»Warum haben Sie es mir nicht gesagt?« fragte Nastja vorwurfsvoll.
»Was?«
»Daß Sie Denissows Sohn sind.«
»Wozu? Ich bin unehelich . . . Was sollte ich mir darauf einbilden? Ich bin kein Sohn, ich bin . . . ich bin für mich allein.«
»Das ist nicht wahr, Serjosha. Er liebt Sie. Er schätzt Sie. Er hat mir ausdrücklich aufgetragen, auf Sie aufzupassen. Er nennt Sie seinen Goldjungen. Und nun habe ich doch nicht genug auf Sie aufgepaßt. Aber Sie dürfen nicht aufgeben, Sie müssen wieder gesund werden, ja?«
»Ich kann nichts versprechen . . . Ich verspreche nie etwas, wenn ich nicht sicher bin. . .« Er rang plötzlich krampfhaft nach Luft, dann schloß er erschöpft die Augen. Nastja wollte ihn nicht mehr beunruhigen und schwieg.
»Warum weinen Sie?« frage er nach einer Weile mit leiser Stimme.
»Woher wissen Sie denn, daß ich weine? Sie haben doch die Augen geschlossen«, versuchte sie zu scherzen, während sie sich die Tränen von den Lippen leckte.
»Ich höre es . . . Ja, ich war Verbrecher, ich war Zeuge . . . Und jetzt. . . jetzt bin ich Geschädigter. So geht es im Leben. Was für eine Epidersion, ein richtiges Perdimonokel. . .«
Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln und erstarben. Nastja begriff nicht gleich, daß sie für immer erstorben waren. Erst als eine Hand sie plötzlich zur Seite schob, wurde ihr klar, daß der Arzt die ganze Zeit hinter ihr gestanden hatte.
Nachdem die hektischen Aktivitäten am Bett, in dem der »Goldjunge« lag, wieder verebbt waren, trat sie erneut zu ihm hin. Sie bückte sich, küßte ihn vorsichtig auf die Stirn und schloß zum Abschied mit einer Handbewegung die Lider über seinen erstarrten Augen.
»Auf Wiedersehen, Serjosha«, sagte sie mit leiser, tränenerstickter Stimme. »Verzeih mir.«
5
Das Schrillen des Telefons riß sie aus ihrer Erstarrung. In der Leitung erklang die schroffe Stimme von Viktor Alexejewitsch Gordejew.
»Kamenskaja, bitte kommen Sie in mein Büro.«
Wenn er sie Kamenskaja nannte, ging es um etwas Amtliches. Nastja warf einen Blick in den Spiegel. Dunkle Augenränder, rote, geschwollene Lider, rote Flecken auf der fahlen Gesichtshaut. Warum gab es Bücher, in denen die Heldinnen noch schöner wurden, wenn sie weinten? Was für gewissenlose Lügen!
Sie öffnete ihre Handtasche, holte ihr Kosmetiktäschchen heraus und schminkte sich provisorisch. Sie bedeckte die unschönen allergischen Flecken mit Make-up, trug etwas Lidschatten auf, um die Schwellung zu vertuschen und kämmte sich. Sie war bereits an der Tür, blieb aber plötzlich stehen und sah hinab auf ihre Füße. Ganz offensichtlich erwarteten sie in Knüppelchens Büro fremde Besucher, und sie war in Jeans, Pullover und Turnschuhen. Nein, so konnte sie sich dort nicht blicken lassen.
Sie schloß hastig die Tür ab, streifte die zwanglose Zivilkleidung ab, die sie so
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