Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
Verhältnis, eins von beidem. Paß auf, gleich wird Muraschow anfangen, uns in die Mangel zu nehmen.«
Das Podium betrat Anatolij Nikolajewitsch Muraschow, der Hilfsreferent des Verwaltungsleiters. Sein Steckenpferd war die Disziplin, und er ließ keine Gelegenheit aus, sich vor Zuhörern über dieses Steckenpferd auszulassen.
»Es wird Zeit, die Stirn zu runzeln und unsere Kollegen von der Abteilung für Personalarbeit zu fragen, warum die Logik in die Sackgasse geraten ist.«
Der Raum belebte sich. Oberst Muraschow war allen für seine ungewöhnlichen Redewendungen bekannt. Er war eine Seele von Mensch und engagierte sich aufrichtig für die Sache, aber mit der russischen Sprache hatte er unüberhörbare Schwierigkeiten. Am amüsantesten daran war, daß er selbst es nicht merkte, sondern sich für ungewöhnlich redegewandt hielt. Seine Stilblüten waren keine versehentlichen Entgleisungen, sondern das Resultat großer sprachlicher Anstrengung bei der Vorbereitung seiner Reden.
». . . Am letzten Freitag haben wir eine Kommission zur Überprüfung des Zustandes der Sporthalle gebildet. Das, was wir dort gesehen haben, übersteigt alle Möglichkeiten der Auswertung und des Grauens . . .«
Nastja mußte sich beherrschen, um nicht loszuprusten. Das müßte Bokr hören, dachte sie, das wäre ein Fest für ihn.
Der Gedanke an Bokr zog sofort den Gedanken an Wladimir Vakar nach sich und ließ Nastja in die gewohnte freudlose Grübelei verfallen. Wie sollte sie beweisen, daß Jerochin Kostja Maluschkin umgebracht hatte, wenn der starrsinnige General weiterhin die Aussage verweigerte? Und wie konnte sie Vakar davor bewahren, einen weiteren Mord zu begehen?
»Ich sehe, daß die Leute in Zivilkleidung zu den Dienstvorbereitungen erscheinen. Das ist nicht in Ordnung, Genossen. Ohne Uniform dürfen nur schwangere Frauen herumlaufen oder solche, die zum Beispiel ein Bein in Gips haben. Ich bestehe darauf, daß ohne Uniform nur schwangere und gebrochene . . .«
»Jura«, flüsterte Nastja, »du solltest die Stirn runzeln und deine Ludmila fragen, warum ihre Logik in die Sackgasse geraten ist.«
»Wie meinst du das?«
»Sie sollte ihrem Mann sagen, daß sie schwanger oder gebrochen ist und deshalb nicht mit ihm auf die Datscha fahren kann.«
»Du mit deinen ewigen Witzen! Etwas anderes fällt dir nicht ein.«
»Stimmt. Und du mit deinem ewigen Weltschmerz. Dir fehlt der Humor. Weißt du überhaupt, was das ist?«
»Ungefähr.«
»Humor entsteht, wenn ein Mensch sich einem bodenlosen Abgrund genähert hat, vorsichtig nach unten blickt und dann leise zurückgeht.«
»Ist das von dir?«
»Nein, von Fasil Iskander. Aber ich kenne zu diesem Thema noch einen ganz wunderbaren Gedanken: ›Es gibt keine unlösbaren Probleme. Es gibt nur unangenehme Lösungen.‹«
»Auch Iskander?«
»Nein, Born. Schäm dich, Jura, wie kann man nur so ungebildet sein. Liest du denn gar nichts?«
»Aber natürlich lese ich«, erwiderte Korotkow beleidigt. »Ich merke mir nur nicht alles. Aber du hast den Kopf voller Müll. Dich kann man fragen, was man will, du weißt immer alles.«
»Du bist ja ein richtiger Sherlock Holmes«, bemerkte sie spöttisch.
»Was tut hier Sherlock Holmes zur Sache?«
»Er war der Meinung, daß man sich den Kopf nicht mit Müll verstopfen darf, sonst findet man zwischen dem ganzen Plunder die Information nicht mehr, die man braucht. Das Wissen darum, daß die Erde sich um die Sonne dreht, nannte er zum Beispiel auch Plunder, denn durch dieses Wissen würde sich die Zahl der Diebe in London nicht verringern. Sag bloß, du erinnerst dich auch daran nicht mehr? Das gehört doch zur Klassik! Es ist eine Schande.«
Nach der Dienstvorbereitung kehrte Nastja in ihr Büro zurück und versuchte zu arbeiten, aber sie war nicht bei der Sache. Ihr ging der starrsinnige Vakar nicht aus dem Kopf, sie könnte sich nicht konzentrieren. Schließlich gelang es ihr doch, sich in den Fall zu vertiefen, mit dessen Lösung sie gerade beschäftigt war. Es ging um eine Serie von Vergewaltigungen in der Gegend des Bitzewskij-Parks. Die Vergewaltigungen wurden in regelmäßigen Abständen verübt, nach der Handschrift zu urteilen, handelte es sich immer um denselben Täter.
Ihre Gedanken wurden vom Läuten des Telefons unterbrochen. In der Leitung erklang das Stimmchen von Soja aus der Anmeldung.
»Kamenskaja, du hast Besuch.«
»Von wem?« fragte Nastja mechanisch, ohne von der Skizze des Bitzewskij-Parks aufzusehen, die vor
Weitere Kostenlose Bücher