Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
ERSTES KAPITEL
1
Das schwarze Kleid umschloß eng die schlanke Figur, betonte vorteilhaft die schönen Brüste und die schmale Taille.
»Na, wie sehe ich aus?« Nastja drehte eine kapriziöse Pirouette, in dem langen Schlitz des Kleides blinkte ein verführerischer Oberschenkel in einem hautfarbenen Strumpf auf.
»Atemberaubend!« Ljoscha Tschistjakow war ehrlich begeistert. Er hatte seine Freundin im Lauf langer Jahre selten anders gesehen als in Jeans, Pullover und Turnschuhen.
»Und wie gefällt dir das Kleid?«
»Es ist phantastisch. Ich danke dir, mein Schatz.«
»Ich habe lange gesucht, um das Richtige für dich zu finden. Schließlich ist es ja ein Ereignis . . .«
»Was für ein Ereignis?«
»Du hast dich zum ersten Mal entschlossen, mich zu einem Bankett zu begleiten. Das will etwas heißen.«
Nastjas Gesicht verdüsterte sich.
»Willst du damit sagen, daß ich heute abend in diesem Aufzug . . .?«
»Aber sicher. Dafür habe ich das Kleid gekauft.«
»Ljoschenka, Liebster«, protestierte sie sanft, »das wird eine Folter für mich. Den ganzen Abend in diesen hochhackigen Schuhen, stundenlang in steifer, verkrampfter Haltung auf einem Stuhl sitzen – das halte ich nicht aus. Laß mich eine Hose anziehen und ein Paar bequeme Schuhe.«
»Aber es handelt sich immerhin um ein Bankett, Nastja«, empörte sich Tschistjakow. »Was denn für eine Hose? Hast du den Verstand verloren?«
»Ich habe eine Hose, die aussieht wie von Pierre Cardin, du wirst staunen. Dazu ziehe ich einen hübschen Pulli an. Bitte, Ljoschenka!«
Sie umarmte Ljoscha zärtlich und rieb ihre Nase an seiner Schulter. Ljoscha winkte verbittert ab und rückte von ihr weg.
»Ich habe mir Mühe gegeben«, sagte er enttäuscht, »bin von Pontius zu Pilatus gelaufen, um genau dieses Kleid für dich zu finden, in deiner Lieblingsfarbe schwarz. Ich habe davon geträumt, daß du es heute anziehst. Und jetzt soll alles umsonst gewesen sein?«
Nastja sah in sein verdrossenes Gesicht und bekam Schuldgefühle. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben, wollte ihr eine Freude machen . . . und sie? Andererseits war die Aussicht auf einen Abend in einem Kleid für sechshundert Dollar und in Schuhen mit solchen Absätzen wirklich nicht rosig. Nach kurzer Zeit würde sie Rückenschmerzen bekommen und geschwollene Füße.
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie kurz entschlossen, »einmal im Leben könnte ich tatsächlich in anständiger Aufmachung unter die Leute gehen. Ich zaubere mir eine Frisur, male mir das Gesicht an, und vorwärts, in die Arena.«
Ljoscha umfaßte sie mit beiden Armen und wirbelte sie im Zimmer herum.
»Nastja, du wirst auf diesem Fest die Schönste von allen sein. Alle Männer werden vor Neid auf mich erblassen.«
Während Nastja Kamenskaja unter der Dusche stand und ihr langes, helles Haar shampoonierte, kam sie zu dem Schluß, daß das Opfer, das sie brachte, gar nicht so groß war in Anbetracht dessen, was Tschistjakow seit Jahren für sie tat. Er umsorgte sie, wenn sie krank war, schleppte riesige Taschen mit Einkäufen an, kochte ihr schmackhafte Mahlzeiten, ertrug klaglos ihren kategorischen Unwillen, ihn zu heiraten, wartete geduldig ab, bis ihre Anfälle von schlechter Laune vorübergingen. Er hatte es weiß Gott verdient, daß seine Freundin ihn wenigstens ein einziges Mal zu einem Bankett begleitete, zumal alle seine Kollegen seit Jahren von der Existenz dieser Freundin wußten, ohne sie je gesehen zu haben. Man machte bereits Witze über Tschistjakow. Warum er seine »Milizionärsdame« vor den Augen der Öffentlichkeit verberge, ob sie vielleicht einen Hinkefuß und einen Buckel hätte. Natürlich wäre es höchst eindrucksvoll gewesen, wenn der junge Professor, angesehener Doktor der Mathematik und im Besitz zahlreicher internationaler Auszeichnungen, mit einer atemberaubenden Blondine am Arm auf einem Bankett erschienen wäre. Nastja mußte grinsen, während sie dieses Bild vor sich sah, dann hielt sie es nicht mehr aus und lachte los. Sie war eine unscheinbare graue Maus mit einem ausdruckslosen Gesicht, nur Ljoscha mit seiner rührenden, hingebungsvollen Liebe konnte in ihr eine Schönheit erblicken. Obwohl sie durchaus etwas aus sich machen konnte, wenn sie sich Mühe gab. Mit einem gekonnt aufgelegten Make-up sah sie sehr hübsch aus, sogar schön. Und was die Figur anging, so hatte die Natur es ohnehin gut mit ihr gemeint. Und dann noch in einem schwarzen Kleid für sechshundert Dollar . . .
Hinter der
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