Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Erste sein, die mit Sauljak zusammentraf. Und vor allem musste sie im Blickfeld derer sein, die sich ebenfalls für Pawel Dmitrijewitsch interessierten.
Um neun Uhr fünfundzwanzig näherte sich dem Lagergelände ein junger Mann in einer dicken wattierten Jacke und einer großen Mütze aus Wolfspelz auf dem Kopf. Er blieb in einer Entfernung von etwa zweihundert Metern von dem grauen Wolga stehen, schaute sich gründlich um und verschwand dann wieder. Nastja bemerkte, dass die zwei Männer im Wagen ein paar Worte miteinander wechselten, worauf das Auto sich erneut in Bewegung setzte und zu manövrieren begann, so, als suchte der Fahrer nach der günstigsten Position auf dem Gelände. Unklar war nur, wofür diese Position am günstigsten sein sollte.
Der wird ganz schön belagert, dachte Nastja. Die Jungs sind auf Draht, das muss man ihnen lassen. Und sie war allein. Sie hatte keine Waffe bei sich und nicht einmal ihren Dienstausweis. Los, komm schon, Sauljak, flehte sie innerlich, komm endlich raus, ich kann hier nicht länger stehen, sonst verwandle ich mich in einen Eiszapfen.
Zehn nach zehn vernahm Nastja ein metallisches Rasseln hinter dem Tor und begriff, dass jemand die einzelnen Etappen der Freilassung durchlief. Ein Schloss nach dem anderen wurde geöffnet. Schließlich schob sich der eiserne Riegel des Tores zur Seite, und es erschien Pawel Dmitrijewitsch Sauljak höchstpersönlich. Während der letzten sechs Tage hatte Nastja so oft sein Foto betrachtet, dass sie ihn sofort erkannte. Die hohe, kahle Stirn, die kleinen Augen, über denen keine Brauen zu sehen waren, die stark eingefallenen Wangen, die schmalen Lippen, die lange, höckerige Nase. Beim Anblick dieses Gesichts wurde Nastja aus irgendeinem Grund plötzlich bange.
»Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte sie schnell und hakte sich bei Sauljak ein. »Der graue Wolga dort ist gekommen, um Ihre Seele zu holen, aber ich werde versuchen, das zu verhindern, obwohl ich nicht sicher bin, ob es mir gelingen wird. Kommen Sie, wir setzen uns auf die Bank.«
Sauljak folgte ihr wortlos. Nastja holte eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und zwei Plastikbecher aus ihrer Tasche.
»Möchten Sie auch?«
Sauljak schüttelte den Kopf.
»Wie Sie wollen. Ich brauche jetzt einen heißen Kaffee, weil ich fast erfroren bin, während ich auf Sie gewartet habe. Die Sache ist die, Pawel Dmitrijewitsch, man ist hinter Ihnen her. Ich weiß nicht, wer diese Leute sind und was sie von Ihnen wollen, aber meine Aufgabe besteht darin, Sie lebendig und unversehrt nach Moskau zu bringen. Man hat mich dafür engagiert und bezahlt. Ich weiß nicht, was für ein Vogel Sie sind und wer so scharf auf Sie ist, aber ich muss meinen Auftrag erfüllen. Ist Ihnen bis hierher alles klar?«
Sauljak nickte.
»Sagen Sie, Pawel Dmitrijewitsch, können Sie auch sprechen?«
»Ich höre Ihnen zu. Fahren Sie fort«, entgegnete Sauljak endlich.
»Gut, ich fahre fort. Vorab möchte ich etwas mit Ihnen klären. Ich bitte Sie um keinen persönlichen Gefallen, alles, was ich tue, geschieht in Ihrem eigenen Interesse. Aber beantworten Sie mir zuerst eine Frage: Sind Sie daran interessiert, lebendig nach Moskau zu kommen, oder haben Sie andere Pläne?«
»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Sauljak.
»Dann möchte ich Sie bitten, mir zu vertrauen und das zu tun, was ich Ihnen sage. Ich habe eine Idee, wie ich Sie so problemlos wie möglich an Ort und Stelle bringen kann, aber über Einzelheiten möchte ich jetzt noch nicht sprechen. Ich möchte, dass wir uns einigen. Allein kommen Sie sowieso nicht bis nach Moskau, aber mit meiner Hilfe haben Sie eine gewisse Chance. Darum werden Sie mir keine Steine in den Weg legen und sich so verhalten, dass ich diese Chance maximal nutzen kann. Abgemacht?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber wir können es als vorläufiges Axiom betrachten.«
»Gut«, sagte Nastja leichthin. »Zumindest sind wir uns vorläufig einig, und danach werden wir weitersehen. Und schließlich das Dritte: Wir sollten uns endlich bekannt machen wie zwei ganz normale Menschen. Ich heiße Anastasija, Sie können mich einfach Nastja nennen. Und im Interesse unserer gemeinsamen Sache sollten wir uns duzen. Ich strecke Ihnen jetzt nicht die Hand entgegen, weil uns der Mann in dem Wolga sehr genau beobachtet, und er soll nicht wissen, dass wir uns eben erst kennen gelernt und eine Abmachung getroffen haben.«
»Sie können mich Pawel nennen. Geben Sie mir bitte einen Kaffee.«
»Ich habe
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