Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Sie konnten es nicht riskieren, jemanden zu ermorden, den sie nicht kannten. Es konnte schließlich jemand sein, dessen Ermordung die Miliz des ganzen Landes auf die Beine bringen würde. Genau darauf setzte Nastja Kamenskaja ihre ganze Hoffnung, genau darauf basierte ihr ganzer Plan. Sauljak war in Sicherheit, solange diejenigen, die ihn jagten, nicht wussten, wer die Frau an seiner Seite war und was überhaupt vor sich ging.
Den Weg von der S-Bahn-Station bis zum Hotel gingen sie zu Fuß, obwohl Nastja vor Kälte schlotterte.
»Ich hoffe, Sie haben nicht vergessen, dass ich keinen Pass besitze«, sagte Sauljak endlich, als es bis zum Hotel nur noch ein paar Schritte waren.
»Nein, das habe ich nicht vergessen.«
Sie betraten die gemütliche, mit Kübelpflanzen geschmückte Hotelhalle und gingen hinauf in den zweiten Stock. Die Etagenfrau hob den Kopf, und als sie Nastja erblickte, lächelte sie liebenswürdig.
»Das hat aber lange gedauert. Aber jetzt sind Sie ja da.« Sie öffnete die Tischschublade und holte den Zimmerschlüssel hervor. »Wahrscheinlich sind Sie völlig durchgefroren.«
»Ja, das bin ich«, gestand Nastja.
»Ich stelle den Samowar an. Bis Sie im Zimmer sind und abgelegt haben, wird das Wasser schon kochen.«
Nastja dankte der Etagenfrau und ging durch den Flur voraus zu ihrem Zimmer.
Sie wohnte in einem komfortablen Zweizimmerappartement mit Kühlschrank und Fernseher. In dem größeren Zimmer, das anspruchsvoll »Salon« hieß, stand eine Polstergruppe, bestehend aus einem Sofa und zwei tiefen Sesseln. Das kleinere Zimmer war das Schlafzimmer. Hier standen lediglich zwei Betten und zwei Nachttische, der Einbauschrank war an der Innenseite der Tür mit einem großen Spiegel versehen.
»Was möchten Sie zuerst? Baden oder essen?«, fragte sie Sauljak, während sie ihre Jacke ablegte und die Stiefel auszog.
»Baden. Aber ich habe keine Kleider zum Wechseln.«
»Kein Problem.«
Sie ging zum Telefon und rief die Etagenfrau an. Gleich darauf erschien diese mit dem heißen Samowar im Zimmer.
»Hier, das Wasser hat gerade gekocht«, erklärte sie. »Trinken Sie etwas Heißes, damit Ihnen warm wird.«
»Jelisaweta Maximowna, Pawel braucht etwas zum Anziehen. Lässt sich das bewerkstelligen?«
»Natürlich«, sagte die Etagenfrau mit einem Nicken. »Machen Sie mir eine Liste, nebenan ist ein Geschäft, in dem es alles gibt.«
Nastja öffnete ihren Notizblock, stellte rasch eine Liste der nötigsten Sachen zusammen und reichte das Blatt zusammen mit einigen Geldscheinen der Etagenfrau. Diese warf einen neugierigen Blick auf Pawel, aber der stand nur abseits und schwieg, so als ginge ihn das alles gar nichts an, als wäre es gar nicht er, der die Kleider brauchte.
Als die Etagenfrau das Zimmer verlassen hatte, ging er wortlos ins Badezimmer. Nastja hörte, wie das Wasser zu rauschen begann, und wartete auf das Geräusch des Riegels an der Innenseite der Tür. Aber nichts geschah. Nach einiger Zeit wurde das Wasser wieder abgestellt, und Nastja begriff, dass Sauljak sich in die Badewanne gelegt hatte. Sie näherte sich der Tür und klopfte vorsichtig.
»Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Pawel?«
»Ja«, hörte sie ihn hinter der Tür antworten.
»Haben Sie die Tür abgeschlossen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Wozu? Wollen Sie etwa hereinkommen?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Nastja. »Obwohl. . . ich weiß nicht. Womöglich komme ich doch herein. Würde Ihnen das nichts ausmachen?«
»Nein. Sie würden hier nichts Neues oder Überraschendes sehen.«
»Das ist wahr«, schmunzelte Nastja. »Alle Männer haben dieselbe Anatomie. Und alle Frauen ebenfalls. Auf der Ablage stehen übrigens zwei Fläschchen, die völlig gleich aussehen, aber in dem einen ist Shampoo und in dem anderen Haarbalsam. Verwechseln Sie es nicht.«
»Ich kann lesen.«
»Es ist keine russische Aufschrift.«
»Das macht nichts. Ich kann es trotzdem lesen.«
»Sie Glücklicher. Und ich beherrsche keine einzige Fremdsprache. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«
»Nein.«
»Wie Sie wollen.«
Nastja ging zurück ins Zimmer, brühte sich mit dem Wasser aus dem Samowar eine Tasse Instantkaffee auf und machte es sich mit angezogenen Beinen auf dem Sofa bequem. Mit diesem Sauljak war es nicht einfach. Er war verschlossen, wortkarg und überhaupt nicht wissbegierig. Dabei war ihr ganzer Plan darauf aufgebaut, dass sowohl Sauljak als auch seine Verfolger ein normales menschliches Interesse an allem
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