Anastasija 06 - Widrige Umstände
gewesen: Sturz, Lärm, Prellungen. Mischa Dozenko hatte die Nachbarn befragt, niemand hatte etwas gehört. Nur zwei alte Leute in der Nachbarwohnung waren wach geworden, als Irina um halb drei ihre Tür aufschloss und zuklappte. Alte Menschen haben einen leichten Schlaf und Einschlafprobleme. Ein Gepolter in der Wohnung zehn Minuten später hätten sie also ebenfalls gehört.
Hatte sie auch nichts übersehen? Nein. Nun also zur absichtlichen Beschädigung des Herdes in der Zeit zwischen 1.30 Uhr und 2.30 Uhr.
Nastja zeichnete kleine Quadrate und Pfeile auf das Blatt, schrieb einzelne Worte und ganze Sätze, notierte sich Fragen, die dem Kriminaltechniker, den Nachbarn und Filatowas Vater gestellt werden mussten. Die Kippen im Aschenbecher wurden immer mehr, der Kaffee immer weniger. Auf dem Tisch lagen nun neue Blätter: »Geplant«, »Zufall«, »Turnschuhe«, »Schloss«. Schließlich hatte sie ein Bild des Verbrechens vor Augen, bei dem alles zusammenpasste, was sie bisher wusste: Die unverschlossene Wohnungstür, die ordentlich aufgeschnürten Turnschuhe, der defekte Herd, der warme Teekessel, der Mann, der aus dem Haus kam, die seltsame Stille und die rätselhafte Prellung.
Ja, Irina Sergejewna, dachte Nastja und betrachtete das Amateurfoto der Filatowa, Ihr Tod war kein Unfall. Sie wurden ermordet. Vorsätzlich und kaltblütig. Von einem erfahrenen und vorsichtigen Täter. Er konnte nicht ahnen, dass Sacharow unten im Auto auf Sie wartete. Ohne ihn hätte man Ihre Leiche erst heute entdeckt, und der Teekessel wäre längst abgekühlt. Und er konnte nicht ahnen, dass Sie zu den zehn, fünfzehn Prozent gehören, von denen das Lehrbuch sagt, dass der Strom auf ihrem Körper keine Spuren hinterlässt, und dass sich deshalb Leute finden würden, die nicht an einen zufälligen Tod glauben. Ihr Mörder hat richtig kalkuliert. Aber die Umstände waren gegen ihn. Was also ist mit Ihnen geschehen, Irina Sergejewna? Wen haben Sie verärgert oder gestört? Wen haben Sie gekränkt?
Zermürbt von der stickigen Luft im Bus, stieg Nastja eine Haltestelle früher aus. Sie war einer Ohnmacht nahe gewesen. Nastja, die tagelang ohne Essen und ohne Schlaf auskam, wenn sie in die Lösung eines analytischen Problems vertieft war, Nastja, die in acht Jahren nicht ein einziges Mal krankgeschrieben war und bei jeder Krankheit auf den Beinen blieb, dieselbe Nastja hatte zwei Todfeinde: Hitze und Menschenmengen. Dagegen war sie machtlos. Ihr Körper versagte den Dienst, als flüsterte er ihr höhnisch zu: »Du ernährst mich mit trockenem Brot, vergiftest mich mit Nikotin, kümmerst dich nicht um mich, wenn ich krank bin, ich bin dir scheißegal – das hast du nun davon, bitte sehr! Gerade, wenn du todmüde bist oder spät dran, zwinge ich dich, zu Fuß zu gehen!« Nastja kannte diese Tücken ihres Kreislaufs und sicherte sich dagegen ab, indem sie immer eine Ampulle Salmiakgeist bei sich trug, vor allem aber, indem sie ihre Routen so organisierte, dass sie immer viel Zeit in Reserve hatte. Nastja Kamenskaja kam nie zu spät.
Langsam, als wolle sie jede überflüssige Muskelanstrengung vermeiden, lief sie nach Hause und erledigte unterwegs einige Einkäufe. Ihre große Schultertasche wurde immer schwerer, ihre vom stundenlangen Sitzen im heißen Büro angeschwollenen Füße schmerzten unerträglich. Nastja hatte eine eigenwillige Methode, sich ihr Haushaltsgeld einzuteilen. Wenn sie ihr Gehalt bekam, legte sie es auf Zweckhäufchen, dann dividierte sie die für Lebensmittel bestimmte Summe durch die Anzahl der Tage im Monat. Das ermittelte Ergebnis war ihr Tageslimit, das zu überschreiten sie sich verbot. Je seltener sie also einkaufen ging, desto mehr leckere (und teure) Lebensmittel konnte sie kaufen. Wenn sie jeden Tag ging, musste sie sich mit Brot, Milch und Rührei mit Tomaten begnügen. Ging sie aber nur alle fünf Tage oder noch besser nur einmal in der Woche, konnte sie sich geräuchertes Hähnchen, Käse, Wellfleisch und sogar Melone leisten. Neben der Möglichkeit kleiner Schlemmereien hatte diese Art des Wirtschaftens einen weiteren, ganz entscheidenden Vorteil: Sie entsprach Nastjas geradezu legendärer Faulheit.
Auf der Bank vor ihrem Haus saß ein rothaariger Strubbelkopf, in ein Buch vertieft. Neben ihm türmten sich Plastiktüten, aus denen Lauchzwiebeln und ein goldgelbes Baguette ragten; hinter der durchsichtigen Folie schimmerten knallrote Tomaten. Als Nastja die Bank erreichte, riss der Rotschopf sich von
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