Anastasija 06 - Widrige Umstände
finden wird. Er ist noch jung, hat noch zu wenig Biss. Ich aber könnte etwas finden, wenn es denn etwas zu finden gibt. Aber wie kann ich das tun, wenn ich Ihnen das Leben des Jungen verdanke? Den Einsatz habe ich organisiert und geleitet, und dass er beinahe getötet worden wäre, war meine Schuld, mein Fehler, meine Unachtsamkeit. Wäre das geschehen, ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden. Das haben Sie mir erspart, Sie haben mir geholfen, und darum stehe ich in Ihrer Schuld. Sie wollen nicht mit mir reden? Also kann ich niemals mit einem Sack Beweise gegen Sie hier aufkreuzen. Das würde mein Gewissen nicht zulassen. Ist vielleicht eine Macke, aber so ist es nun mal. Und was heißt das? Früher haben wir immer ehrlich gekämpft: Ihr Können gegen meins. Und jetzt? Ihre Gerissenheit gegen mein Gewissen?«
Der Monolog war überzeugend, Dorman wurde weich. Er schnipste mit den Fingern, um den Hund zu beruhigen, den Gordejew weder sah noch hörte, und führte den Gast nach einer einladenden Geste an üppigen Blumenbeeten vorbei zum Haus. Er setzte sich an den runden Tisch auf der geräumigen Veranda und sagte trocken:
»Ich habe dich nicht eingeladen, darum biete ich dir auch keinen Tee an. Schieß los.«
»In der Nacht vom zwölften auf den dreizehnten Juni wurde in Moskau eine Frau getötet, eine Mitarbeiterin der Miliz. Der Mord war als Unfall getarnt, Tod durch Stromschlag. Aber schlecht getarnt, die Fälschung fiel geradezu ins Auge. Der Mörder hat viele Spuren hinterlassen. Mehr noch, wir haben einen Zeugen, der bereit ist, ihn zu identifizieren. Aber das Wichtigste: Er ist geschwätzig geworden, dieser Mörder. Er wird alt, seine Nerven machen nicht mehr mit. Wir kennen jetzt seinen Decknamen: Gallier. Er lebt in Sankt Petersburg. Ich weiß nicht, für wen diese Information nützlich sein könnte, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich bin mir sicher, dass sich Leute finden werden, die Ihnen sehr dankbar wären, wenn Sie sie warnen: Der Gallier ist am Ende, seine Umsicht und seine Professionalität lassen nach. Zum ersten Mal läuft wegen eines von ihm begangenen Mordes eine Ermittlung, und wir werden ihn suchen, bis wir ihn haben. Ich sehe nur zwei Auswege: Entweder, wir kriegen einen anderen Täter samt unerschütterlichen Beweisen geliefert, damit wäre der Gallier gerettet. Oder man liefert uns den Gallier, mit den geringsten Verlusten. Das ist alles.«
Dorman schwieg so lange, dass Gordejew mulmig zumute wurde. Schließlich löste Dorman die gefalteten Hände, auf die er das Kinn gestützt hatte, pochte auf den Tisch und biss sich auf die Unterlippe. Seine feuchten, hervorquellenden Augen glitten langsam über Gordejews Gesicht, über seine runde, wohl genährte Gestalt. Seine Lippen, selbst im Alter noch fest, bebten spöttisch.
»Na schön, Gordejew, du hast dir einen Tee verdient. Bleib sitzen, ich komme gleich wieder.«
Allein geblieben, spürte Gordejew, wie die Spannung in seinem Innern nachließ. Er hatte gar nicht geahnt, wie groß sie gewesen war.
Beim Tee lief das Gespräch leichter.
»Du tust mir Leid, Gordejew«, sagte Dorman, während, er mit einem Löffel die Konfitüre in einem Kristallschälchen umrührte. »Leuten wie dir renkt das System die Arme aus, schnürt ihnen die Luft ab und verlangt von ihnen dabei noch anständige Arbeit und Ergebnisse, Erfolge. Hast du nie darüber nachgedacht, was für ein gerissener Hund sich unser Milizsystem ausgedacht hat? Er hat wahrscheinlich Millionen dafür kassiert, dieser Mistkerl, damit er sich die ganzen Regeln ausdenkt, nach denen ihr jetzt lebt. Ihr müsst doch über jeden Schritt Rechenschaft ablegen. Um mich, den landesweit bekannten Kriminellen Dorman, observieren zu lassen, musst du ein Kilo Papier mit Rapporten einreichen. Bis du die alle geschrieben hast und sie ihren Adressaten erreicht haben, bin ich längst in Australien. Welcher Idiot hat festgelegt, dass ihr alle kurze Haare haben müsst? Wenn ein Milizionär in Uniform Streife läuft, einverstanden, dann soll er ruhig kurze Haare haben. Aber wenn er Kriminalist ist, Ermittler, dann klebst du ihm damit doch ein Etikett auf: Achtung, Bürger, ich bin Bulle. Wer hat die Gehälter der Milizionäre so bemessen, dass sie sich davon kein Auto und keine Wohnung kaufen können? Das weißt du nicht? Aber ich weiß es. Das alles ist mit Absicht gemacht worden, um zu gewährleisten, dass Informationen durchsickern. Um immer im Bilde zu sein, wer was macht, wer wohin
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