Anastasija 06 - Widrige Umstände
fährt, wer wen verfolgt. Um euch alle unter Kontrolle zu haben und euch rechtzeitig das Maul zu stopfen, wenn ihr eure Nase in Sachen steckt, die euch nichts angehen. Du sollst dir keine eigene Wohnung kaufen können, damit du immer schön vom guten Onkel abhängig bleibst. Du sollst nicht mit dem eigenen Wagen durch die Stadt kutschieren und Verbrecher fangen, sondern du sollst schön um einen Dienstwagen bitten, damit sie immer wissen, wohin du fährst und warum. Und erniedrigen sollst du dich dabei, damit du nicht vergisst, wer du bist. Und jetzt kommt es noch viel schlimmer.«
»Warum? Schlimmer geht’s doch wohl nicht mehr.«
»Oh, mein Lieber, und ob, und ob. Den gerissenen Hund von früher hat ein neuer abgelöst, und der ist auf die Idee gekommen, den Rechtsstaat zusammen mit der Marktwirtschaft einzuführen. Das ist doch absurd, aber ihr schluckt das schweigend und duldet das. Wie werdet ihr denn jetzt arbeiten, Gordejew? Zu dieser Marktwirtschaft, zum ganz großen Geld werden dir deine Detektive weglaufen, mit den lächerlichen Milizgehältern ist doch kein Blumentopf zu gewinnen. Und wer bleibt? Wer zu dumm ist, unflexibel, faul, mit einem Wort: der Ballast. Und die, die entweder für uns arbeiten oder korrupt sind, also die, denen es auch bei euch an nichts fehlt. Na, und das junge Gemüse, das frisch vom Studium kommt und noch nichts kann; aber sobald sie was gelernt haben, gehen sie entweder in die erste Gruppe, in die Wirtschaft, oder in die dritte, zu den Korrupten. Und wenn sie nichts lernen, dann bleiben sie in der zweiten Gruppe, bei den Versagern und Sitzenbleibern. Das ist die natürliche Auslese, die euch bevorsteht, Gordejew. Und parallel zu diesen heiteren Aussichten wollt ihr den Rechtsstaat aufbauen. Die Staatsanwälte kontrollieren, überwachen, verhindern Verhaftungen. Die Anwälte stehen zur Verteidigung bereit, sobald jemand festgenommen wird. Die Richter beantragen keine Nachermittlungen mehr, sondern sprechen frei. Paradiesische Zustände! Für uns. Für euch dagegen eine Kette qualvoller Albträume. Um in diesen Paradiesgarten einzudringen, muss man was von seinem Job verstehen. Und wer wird das bei euch, wenn wir an den beschriebenen Prozess der Kräfteverteilung denken? Wenn jemand unser Land absichtlich in eine kriminelle Katastrophe führen wollte – er hätte es sich nicht besser ausdenken können. Darum tust du mir Leid. Du bist ein guter Mann, Knüppelchen, ehrlich und professionell. Diese Kombination ist selten. Sie werden dich auffressen. Wie lange hast du noch bis zur Pension?«
»Die Dienstjahre hab ich schon. Ich könnte sofort aufhören.«
»Aber du machst weiter? Na ja, Respekt. Obwohl ich natürlich ruhiger leben könnte, wenn du gehen würdest. Soll ich dir die Wahrheit sagen, Gordejew? Ich habe Angst vor dir. Von allen Bullen, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe, bist du der Einzige, der mich heute noch schnappen könnte. Wenn du weg bist, kann ich aufatmen. Vielleicht drehe ich ja auf meine alten Tage noch das Ding des Jahrhunderts, irgendwas ganz Großes, Schönes, Elegantes, Sensationelles. Was lachst du?« Dorman lächelte verschmitzt und tat sich Konfitüre auf. »Denkst du, der alte Jewsej ist verrückt geworden? Wer weiß, vielleicht will ich ja, dass alle sagen: Mit dem alten Dorman können wir es nicht aufnehmen. Schon gut, ist nicht ernst gemeint. Ich werde meinen Lebensabend ganz friedlich verbringen.«
»Tun Sie mir den Gefallen«, bat Gordejew ironisch.
Auf der Rückfahrt in einem alten, halbdunklen Vorortzug mit kaputten Fensterscheiben und aufgeschlitzten Sitzen dachte Gordejew über das nach, was Dorman gesagt hatte. Wenn man seiner Logik folgte, hieße das, er, Gordejew, könnte nur die Täter fangen, die man ihn fangen ließ. Aber war es nicht tatsächlich so? Es klang ungeheuerlich, war aber schwer zu widerlegen; es gab etliche Beispiele dafür. Und Gordejew dachte daran, dass er Recht gehabt hatte, als er neunzehnhundertsiebenundachtzig begann, die Abteilung auf seine Weise zu leiten. Als gerade die ersten Gespräche über den Rechtsstaat aufkamen, hatte er bereits gewusst, wohin das führen würde. Noch bevor die Idee wirklich in den Köpfen saß, würde man die Praxis daran anpassen. Die Zeit reichte nicht aus, wirkliche Professionalität herauszubilden. Dafür musste mindestens eine Generation von Lehrern herangezogen werden und die Zeit bekommen, ihre Schüler auszubilden, das aber dauerte mindestens zwanzig Jahre. Deshalb
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