Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
einem anderen Autor, aber woher etwas nehmen, das genau den richtigen Umfang hat? Geschichten von fünf bis acht Bogen schreibt kaum noch jemand, heutzutage leiden doch alle unter Größenwahn, genau wie ich. Jeder schrubbt achtzehn, zwanzig Bogen. Bis auf die alten Hasen, die den Umfang von vornherein festlegen können.«
»Und das kannst du nicht?«
»Nein. Aber ich lerne, noch besteht Hoffnung.«
Stassow sah wieder auf die Uhr. Sie sprachen schon drei Minuten miteinander.
»Tanja, ich ruf dich zurück, ja? Schade um dein Geld.«
»Red bitte keinen Unsinn. Ich dachte, das hätten wir geklärt. Mit dir zu reden ist mir ein Vergnügen, und mein Vergnügen bezahle ich selbst.«
»Wenn du nicht so dickköpfig wärst und mich heiraten würdest, dann wäre es unser gemeinsames Geld, das du vertelefonierst. So aber fühle ich mich wie ein Schmarotzer.«
»Aber Dima, wir waren uns doch einig . . .«
Nur Tatjana benutzte von allen möglichen Koseformen seines Vornamens Wladislaw die seltenste Variante – Dima. Alle anderen sagten Wlad, Stassik oder Slawa.
Er hatte Tatjana vor knapp drei Monaten kennen gelernt. Nach einer Woche machte er ihr einen Heiratsantrag, womit er nicht nur sie ziemlich verblüffte, sondern auch sich selbst. Beim ersten Mal wies Tatjana ihn nicht einmal ab – sie nahm den Antrag gar nicht ernst. Nach einer weiteren Woche wiederholte er den Versuch und erhielt die Zusage, im Winter auf diese Frage zurückzukommen. Doch das genügte Stassow nicht. Er verstand selbst nicht, warum er so darauf versessen war, Tatjana zu heiraten, aber er wusste genau: Nichts auf der Welt wollte er so sehr wie das. Schließlich rang er ihr die Einwilligung ab, ihn im Januar zu heiraten.
»Ja, ich weiß, ich weiß, nicht vor Januar. Aber vielleicht überlegst du es dir ja noch einmal? Warum denn ausgerechnet im Januar? Lass uns jetzt heiraten. Dann lösen sich alle Probleme von selbst.«
»Na schön, Ende Dezember.«
»Nein, jetzt«, beharrte Stassow, denn er spürte, dass er einen günstigen Moment erwischt hatte, die widerspenstige Liebste zu »bearbeiten«. Sie fehlte ihm so! Er liebte sie sehr.
»Anfang Dezember.«
»Sofort! Tanja, ich bitte dich . . .«
»Na schön, im November«, gab Tatjana sich geschlagen.
»Abgemacht«, parierte Stassow. »Anfang November, am Tag der Miliz.«
»Dima! Überspann den Bogen nicht, setz mir nicht die Pistole auf die Brust.«
»Danke, Tanja. Am nächsten freien Wochenende komme ich zu dir, dann bestellen wir das Aufgebot. Wie geht es Irotschka?«
»Bestens. Sie flattert umher, singt, kocht, putzt und umsorgt mich wie ein Kindermädchen.«
»Du hast es gut.«
»Du musst dir nur die richtigen Verwandten aussuchen, dann hast du es auch gut.«
Irotschka war die Schwester von Tatjanas erstem Mann. Er war nach ihrer Scheidung nach Kanada gezogen, und seine Schwester wurde die beste Freundin, Mitarbeiterin und Haushälterin von Tatjana Obraszowa, die als Untersuchungsführerin arbeitete und in ihrer Freizeit unter dem Pseudonym Tatjana Tomilina Krimis schrieb, die sehr populär waren. Ein so intensives Arbeiten wäre undenkbar ohne Irotschka Milowanowa, die Tatjana die Hausarbeit abnahm und Tatjanas Zeit so geschickt einteilte, dass aus vierundzwanzig Stunden am Tag mindestens sechsunddreißig wurden – wie eine gute Hausfrau, die aus dürftigen Vorräten im Kühlschrank ein Essen für vier überraschende Gäste auf den Tisch zaubert.
Als Stassow aufgelegt hatte, sah er sein geliebtes Kind im Flanellpyjama schlaftrunken in die Küche wanken.
»War das Mama?«
»Nein, Tante Tanja. Warum schläfst du nicht?«
»Wirst du sie heiraten?«, fragte Lilja, die die strenge Frage des Vaters nach dem Grund ihres Wachseins völlig ignorierte.
»Na ja . . . Wenn du nichts dagegen hast.«
»Muss ich dann Mama zu ihr sagen?«
»Nicht unbedingt. Du hast doch eine Mama. Wenn Tante Tanja meine Frau wird, kannst du weiter Tante Tanja zu ihr sagen oder einfach Tanja. Wie du willst.«
Lilja atmete erleichtert auf. Bei der Auswahl ihrer Lektüre seit langem sich selbst überlassen, hatte sie schon so viel »Erwachsenes« gelesen, dass in ihrem Kopf ein wildes Durcheinander aus kindlichen Vorstellungen und tragischen »wahren Lebensgeschichten« herrschte. Unter anderem über böse Stiefmütter und leidende Stieftöchter.
»Papa, und wenn Mama heiratet . . . Wenn Mama heiratet, muss ich dann zu ihrem Mann Papa sagen oder geht auch Onkel Boris?«
Aha, dachte Stassow. Margarita hatte
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