Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
einen zweiten Atem bekommen. Vor einer Woche waren die letzten Außenaufnahmen abgedreht, und dabei hat Alina eine solche Meisterschaft bewiesen, dass sie bei der Mustervorführung im Studio Beifall bekam. Können Sie sich das vorstellen? Im Saal sitzen im Grunde dieselben Leute, die bei den Dreharbeiten dabei waren, also Leute, die das alles schon hundertmal gesehen haben, und trotzdem haben sie spontan Beifall geklatscht. Eine Szene war besonders gelungen. Die Protagonistin, also Alina, bemerkt an einem belebten Ort plötzlich etwas Schreckliches. Und stellen Sie sich vor, sie wurde von den Haarwurzeln bis zum Hals leichenblass, die Augen fielen ein, die Lippen wurden ganz grau. Ohne jede Maske, ohne jeden Schnitt, ohne Spezialeffekte! Das hat noch keine Schauspielerin geschafft! Das ist Alina Wasnis. Nach dieser Vorführung prophezeiten wir Smulow, diese Szene würde in die Filmgeschichte eingehen, wie die Szene mit dem Kinderwagen, der in ›Panzerkreuzer Potemkin‹ die Treppe runterrollt, oder der Abgang und das letzte Lächeln von Giulietta Masini in ›Die Nächte der Cabiria‹. Verstehen Sie, was ich meine? Jedenfalls, der neue Film hätte Smulow und Alina Weltruhm eingebracht. Es war nur noch ein kleiner Rest zu drehen . . . Ich weiß nicht, wie Andrej das verkraften wird. Ein furchtbarer Verlust! Für uns alle. In den Film wurde viel Geld gesteckt, aber er hätte enormen Profit abgeworfen. Nun werden wir wieder einen Haufen Schulden haben . . .«
Aus dem Gespräch mit der Regieassistentin Jelena Albikowa:
»Alina war sehr verschlossen. Nein, nicht zugeknöpft, aber eben verschlossen. Sie kam mit allen blendend aus, hat gescherzt und gelacht und konnte bei einer Fete die ganze Nacht durchtanzen, aber im Grunde wusste niemand etwas von ihr. Außer Andrej Lwowitsch vielleicht. Sie hatte keine Busenfreundin in unserem Kreis, nicht einmal eine enge Bekannte. Ihre ganze Welt drehte sich um Andrej Lwowitsch. Ob sie gütig war? Ich weiß es nicht. Ich habe ihre Güte nie zu spüren bekommen. Aber dass manch einer sie hasst, das ist eindeutig. Wer genau? Nun, erstens Soja Semenzowa, die alte Vettel. Weshalb? Keine Ahnung. Sie zittert förmlich am ganzen Leib, wenn von Alina die Rede ist. Und zweitens? Na ja, wohl die Frau unseres Chefs. Genaueres kann ich darüber nicht sagen, aber es heißt, Xenija Masurkewitsch habe Alina öffentlich beleidigt und die habe ihr das irgendwie heimzahlen wollen. Nein, die Details kenne ich nicht . . .«
Aus dem Gespräch mit dem Regisseur Andrej Smulow:
»Das ist das Ende . . . Ich bin erledigt. Ohne Alina bin ich ein Nichts. Ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll. Weiter arbeiten. Weiter atmen . . .«
Nastja schaltete den Recorder aus und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Sie mussten also heute möglichst herausfinden, was es mit der alten Vettel Soja Semenzowa auf sich hatte, warum sie »förmlich am ganzen Leib zitterte«, wenn von Alina Wasnis die Rede war. Und in Erfahrung bringen, was an der Geschichte mit der öffentlichen Beleidigung, die Masurkewitschs Frau Xenija Alina angeblich zugefügt hatte, dran war. Bis zur vereinbarten Zeit, zu der sie Korotkow wecken wollte, hatte Nastja noch eine Stunde, und sie setzte sich ans Telefon. Bis halb acht hatte sie rund ein Dutzend Leute angerufen und Folgendes erfahren:
Die Schauspielerin Soja Semenzowa hasste Alina Wasnis bereits seit vielen Jahren, schon seit Alinas Zeit beim Musikstudio. Die Einzelheiten wisse am besten der künstlerische Leiter des Studios, Leonid Sergejewitsch Degtjar, Privatnummer, Dienstnummer, Adresse . . .
Xenija Masurkewitsch hatte bei der letzten Vorführung im Filmzentrum vor vier Tagen stark betrunken lauthals erklärt, Alina sei als Persönlichkeit eine Null, ihr ganzes Spiel sei allein von Smulow »erfunden, durchdacht und gebaut«, Alina sei nur eine hübsche Fassade mit nichts dahinter. »Sie kriegt doch keinen ganzen Satz zustande, sie ist einfach ein blödes, beschränktes, ungebildetes Flittchen, das nichts weiter kann als mit dem Regisseur schlafen und sich in Großaufnahme mit nackten Titten zeigen. Was kann man auch erwarten von der Tochter eines ungebildeten lettischen Bauern, der für die Zuzugsgenehmigung nach Moskau eine jüdische alte Jungfer geheiratet hat? Sagenhafte Blödheit, multipliziert mit jüdischer Gerissenheit.« Nach diesem Vorfall hatte Alina Wasnis sich nach der Adresse und der Telefonnummer von Xenijas Vater Valentin Petrowitsch Kosyrjew erkundigt. Dabei
Weitere Kostenlose Bücher