Anathem: Roman
versäumten, den täglichen Aut der Provene zu feiern. Wenn das passierte, würde die Uhr einen Großteil ihres Mechanismus abkuppeln, um Energie zu sparen, und sich, angetrieben durch das langsame Herabsinken der Kugel, in einen Ruhezustand begeben, bis sie wieder aufgezogen würde. Das war bisher nur während der drei Verheerungen und bei ein paar anderen Gelegenheiten passiert, als alle im Konzent so krank gewesen waren, dass keiner die Uhr hatte aufziehen können. Niemand wusste, wie lange die Uhr in diesem Modus laufen konnte, aber man ging davon aus, dass es sich um eine Größenordnung von hundert Jahren handelte. Wir wussten, dass sie die ganze Zeit nach der Dritten Verheerung weitergelaufen war, als die Tausender sich auf ihrer Klippe verkrochen hatten und der übrige Konzent sieben Jahrzehnte lang unbewohnt gewesen war.
Alle Ketten führten hinauf in den Chronochasmus, wo sie an sich auf Wellen drehenden Zahnkränzen hingen, verbunden durch Rädergetriebe und Hemmungen, deren Säuberung und Inspektion Aufgabe der Ita war. Die Hauptantriebskette – diejenige, die in der Mitte hinaufführte und den Meteorit trug – war mit einem langen System von Rädergetrieben und Gestängen verbunden, das, kunstvoll in den Säulen des Praesidiums verborgen, bis hinunter in den Gewölbekeller unter unseren Füßen reichte. Der einzige für Nicht-Ita sichtbare Teil davon war eine gedrungene Nabe, die sich aus der Mitte des Chorbodens erhob und aussah wie ein Altar. Vier waagerechte Stangen ragten etwa in Schulterhöhe wie Speichen aus dieser Nabe. Jede Stange war ungefähr acht Fuß lang. Im richtigen Moment während der Zeremonie gingen Jesry, Arsibalt, Lio und ich jeder ans Ende einer Stange und legten die Hände darauf. In einem bestimmten Takt im Anathem warf jeder von uns sich gegen seine Stange, wie ein Matrose, der versucht, durch Drehung des Spills den Anker einzuholen. Doch nichts bewegte sich, abgesehen von meinem rechten Fuß, der sich vom Boden löste und ein paar Zoll zurückrutschte, ehe er wieder Halt fand. Unsere vereinten Kräfte
konnten die Haftreibung all der Lager und Zahnräder zwischen uns und dem Zahnkranz Hunderte von Fuß weiter oben, von dem die Kette und das Gewicht herabhingen, nicht überwinden. Wenn das Ganze sich erst einmal gelöst hätte, wären wir stark genug, es am Laufen zu halten, aber es zu lösen erforderte einen mächtigen Stoß (vorausgesetzt, wir wollten rohe Gewalt anwenden) oder, wenn wir lieber schlau sein wollten, eine winzig kleine Erschütterung: eine feine Schwingung. Verschiedene Praxiker würden dieses Problem auf unterschiedliche Weise lösen. In Saunt Edhar machten wir es mit unseren Stimmen.
Früher, in alter Zeit, als sich auf dem schwarzen Felsen von Ekba noch die Marmorsäulen der Hallen von Orithena erhoben, kamen die Theoren der ganzen Welt kurz vor Mittag unter der großen Kuppel zusammen. Ihr Anführer (zunächst Adrakhones selbst; später Diax oder einer seiner anderen Fids) stand dann auf dem Analemma und wartete darauf, dass Schlag Mittag der Lichtstrahl aus dem Okulus über ihn hinwegging: ein Höhepunkt, gefeiert mit dem Singen des Anathems für Unsere Mutter Hyläa, die uns das Licht ihres Vaters Knous gebracht hatte. Der Aut war außer Gebrauch gekommen, nachdem Orithena zerstört worden war und die überlebenden Theoren sich auf die Peregrine begeben hatten. Viel später jedoch, als die Theoren sich in die Mathe zurückgezogen hatten, stützte Saunt Kartas sich auf ihn, um die Liturgie, die damals praktiziert wurde, für das ganze Alte Mathische Zeitalter zu verankern. Wiederum außer Gebrauch kam er während der Ausbreitung zu den Neuen Periklynen und des darauf folgenden Praxischen Zeitalters, aber dann, nach den Schrecklichen Ereignissen und der Rekonstitution, wurde er in einer neuen Form mit dem Aufziehen einer Uhr als Mittelpunkt wieder aufgenommen.
Das hyläische Anathem existierte jetzt in Tausenden verschiedener Versionen, da wohl jeder Komponist und jede Komponistin unter den Avot sich mindestens einmal im Leben daran versuchte. Alle Versionen beruhten auf denselben Worten und Strukturen, waren aber so unterschiedlich wie Wolken. Die ältesten waren monophon, das heißt, jede Stimme sang dieselbe Note. Die in Saunt Edhar gebräuchliche war polyphon: Verschiedene Stimmen sangen verschiedene Melodien, die auf harmonische Weise zusammengewoben waren. Diese Einser in ihren grünen Gewändern sangen nur einige Teile davon. Die übrigen Stimmen
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