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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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was ich dachte. Man mag es unnötig persönlich finden, vielleicht sogar unmoralisch – ein schlechtes Beispiel für andere Fids, die diesen Bericht vielleicht eines Tages aus einer Nische ragen sehen. Aber das gehört nun mal zu dieser Geschichte.
    Als ich an diesem Tag die Uhr aufzog, fragte ich mich, wie es wohl wäre, auf das Felsgesims des Wehrwarts zu klettern und hinunterzuspringen.
    Wer so etwas überhaupt nicht verstehen kann, ist vermutlich kein
Avot. Die Nahrung, die er zu sich nimmt, besteht aus Feldfrüchten, deren Gene etwas von der Allesgut-Sequenz oder noch stärkerem Zeug haben. Trübsinnige Gedanken belasten vielleicht nie sein Gemüt. Und wenn doch, dann besitzt er die Fähigkeit, sie wegzuschicken. Ich hatte diese Fähigkeit nicht und wurde die Gesellschaft dieser Gedanken allmählich leid. Eine Möglichkeit, sie für immer zum Schweigen zu bringen, wäre gewesen, eine Woche später durch das Dezenariertor hinauszuspazieren, das Leben mit meiner Herkunftsfamilie wieder aufzunehmen (vorausgesetzt, sie wollte mich wiederhaben) und zu essen, was sie aß. Eine andere hätte darin bestanden, die Treppe hinaufzusteigen, die sich in unserer Ecke des Mynsters emporwand.
    Mystagoge: (1) In Frühmittelorth ein auf ungelöste Probleme spezialisierter Theoriker, insbesondere einer, der Fids in das Studium derselben einführte. (2) In Spätmittelorth Mitglied einer Suvin, die von der Mitte des zwölften Jahrhunderts A. R. bis zur Wiedergeburt die Mathe beherrschte und behauptete, dass keine weiteren theorischen Probleme mehr gelöst werden könnten, die außerdem die theorische Forschung missbilligte, Bibliotheken schloss und Mysterien und Rätsel zum Fetisch erhob. (3) In Praxik- und Spätorth ein abwertender Begriff für eine Person, von der man meint, sie ähnele den unter (2) beschriebenen.
    DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
    »Sterben Leute vor Hunger? Oder werden sie krank, weil sie zu dick sind?«
    Handwerker Quin kratzte sich den Bart und dachte darüber nach. »Du sprichst vermutlich von Dards?«
    Fraa Orolo zuckte die Achseln.
    Quin fand das witzig. Im Gegensatz zu Handwerker Flec scheute er sich nicht, laut loszulachen. »Irgendwie beides zugleich«, räumte er schließlich ein.
    »Sehr gut«, sagte Fraa Orolo in einem Jetzt-kommen-wir-der-Sache-endlich-näher -Ton und schaute zu mir herüber, um sicherzugehen, dass ich es aufschrieb.

    Nach Flecs Befragung hatte ich einen Wortwechsel mit Fraa Orolo gehabt. »Pa, was machst du mit diesem fünfhundert Jahre alten Fragebogen? Das ist verrückt.«
    »Das ist die achthundert Jahre alte Kopie eines elfhundert Jahre alten Fragebogens«, korrigierte er mich.
    »Es wäre ja noch etwas anderes, wenn du ein Hunderter wärst. Aber wie sollten die Dinge sich in nur zehn Jahren so sehr verändert haben?«
    Fraa Orolo hatte mir erzählt, dass es seit der Rekonstitution achtundvierzig Fälle von radikalen Veränderungen innerhalb eines Jahrzehnts gegeben hatte und dass zwei davon in Verheerungen gegipfelt hatten – das heißt, die plötzlichen waren vielleicht die bedeutendsten. Dennoch waren zehn Jahre ein genügend langer Zeitraum, dass Leute, die extramuros lebten und in ihr alltägliches Treiben vertieft waren, Veränderungen vielleicht gar nicht bemerkten. So konnte ein Zehner, der einem Handwerker einen elfhundert Jahre alten Fragebogen vorlas, der extramurischen Gesellschaft (vorausgesetzt, irgendjemand da draußen passte auf) einen Dienst erweisen. Was dazu beitragen könnte, zu erklären, warum wir von der Säkularen Macht nicht nur geduldet, sondern auch beschützt wurden (außer wenn wir es nicht wurden). »Der Mann, der jeden Tag beim Rasieren ein Muttermal auf seiner Stirn sieht, erkennt vielleicht nicht, dass es sich verändert; der Arzt, der es nur ein Mal im Jahr sieht, erkennt es vielleicht sofort als Krebs.«
    »Wunderbar«, hatte ich gesagt. »Aber bis jetzt hast du dich nie um die Säkulare Macht gekümmert, was ist also dein wahrer Grund?«
    Er hatte so getan, als verblüffte ihn die Frage, doch als er merkte, dass ich nicht klein beigeben würde, hatte er die Achseln gezuckt und gesagt: »Nur eine Routineuntersuchung für die KBS.«
    »KBS?«
    »Kausaler-Bereich-Scherung.«
    Das war gewissermaßen der Beweis gewesen, dass Orolo mich nur auf den Arm genommen hatte. Aber manchmal hatte er recht, wenn er das tat.
    Korrektur: Er hatte immer recht. Manchmal war ich imstande, es zu sehen. Also hatte ich das Gesicht in die Hände gestützt

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