Anathem: Roman
kamen durch die Schirme.
Traditionellerweise sangen die Tausender die tiefsten Noten. Es ging das Gerücht, sie hätten spezielle Techniken entwickelt, um ihre Stimmbänder zu lockern, was ich auch glaubte, da niemand in unserem Math so tiefe Töne singen konnte wie die, die aus ihrem Langhaus rumpelten.
Das Anathem begann einfach, wurde dann aber so kompliziert, dass das Ohr kaum noch folgen konnte. Hätten wir eine Orgel gehabt, wären dafür vier Organisten nötig gewesen, die jeweils beide Hände und beide Füße benutzten. Im alten Aut hatte dieser Teil des Anathems das Kaos des nicht-systematischen Denkens dargestellt, das Knous vorausgegangen war. Der Komponist hatte es beinahe zu gut umgesetzt, denn während dieses Teils der Musik konnte das Ohr die verschiedenen Stimmen kaum entwirren. Dann aber, ungefähr so, wie wenn man eine geometrische Form anschaut, die wie ein Strüpp ohne jede Ordnung aussieht, deren Flächen und Eckpunkte sich jedoch, sobald man sie ein klein wenig dreht, mit einem Mal so ausrichten, dass man erkennt, was es ist, fanden all diese Stimmen innerhalb weniger Takte zu einer Harmonie und fielen dann zu einem einzigen reinen Ton zusammen, der in dem Lichtschacht unserer Uhr widerhallte und alles aus Sympathie mit ihm mitschwingen ließ. Sei es einem glücklichen Zufall oder einer Meisterleistung der Praxiker gedankt, die Schwingung war gerade stark genug, um das Siegel der Haftreibung an der Aufzugswelle zu brechen. Obwohl Lio, Arsibalt, Jesry und ich wussten, dass das kommen würde, fielen wir regelrecht vorwärts, als die Nabe sich in Bewegung setzte. Augenblicke später, nachdem der Rückstoß im Rädergetriebe aufgenommen worden war, begann der Meteorit über unseren Köpfen nach oben zu kriechen. Und wir wussten, dass wir nach weiteren zwanzig Takten damit rechnen konnten, zu spüren, wie die tägliche Ansammlung an Staub und Fledermausexkrementen aus einer Höhe von mehreren Hundert Fuß auf unsere Köpfe herabrieselte.
In der alten Liturgie hatte dieser Moment das Heraufdämmern des Lichts in Knous’ Bewusstsein dargestellt. Der Gesang teilte sich jetzt in zwei konkurrierende Weisen, von denen die eine Deat und die andere Hyläa, die beiden Töchter von Knous, repräsentierte. Gegen den Uhrzeigersinn um die Welle herumtrottend, steigerten wir uns bis zu einem gleichmäßigen Schritt, der mit dem Rhythmus des Anathems zusammenfiel. Der Meteorit begann sich etwa zwei Zoll pro Sekunde zu heben und das würde er weiterhin tun, bis er
seinen oberen Anschlag erreichte, was etwa zwanzig Minuten dauern würde. Gleichzeitig drehten sich auch die vier Zahnkränze, an denen die vier anderen Ketten hingen, wenn auch viel langsamer. Der Würfel hob sich während dieses Aut um etwa einen Fuß. Das Oktaeder um etwa einen Zoll und so weiter. Und ganz oben über der Decke sank langsam die Kugel herab, um die Uhr so lange am Laufen zu halten, wie wir zum Aufziehen brauchten.
Ich sollte vielleicht klarstellen, dass eigentlich gar nicht so viel Energie nötig ist, um eine Uhr – selbst eine riesengroße – vierundzwanzig Stunden lang zu betreiben! Fast die ganze Energie, die wir in das System gaben, wurde darauf verwendet, die Erweiterungen wie Glocken, Tore, die große Planetenmaschine unmittelbar am Tagestor, verschiedene kleinere Sonnensystemmodelle und die Polarachsen der Teleskope auf dem Sternrund zu betreiben.
Nichts von alledem war mir wirklich bewusst, während ich meine Stange immer und immer wieder um die Nabe schob. Natürlich sah ich diese Dinge während der ersten paar Minuten in neuem Licht, einfach weil ich wusste, dass Handwerker Flec zuschaute, und ich versuchte mir vorzustellen, wie ich ihm das alles erklären würde, vorausgesetzt, er fragte mich überhaupt. Doch als wir dann unseren Rhythmus gefunden hatten und mein Herz begonnen hatte, in regelmäßigem Tempo dazu zu schlagen, und der Schweiß mir allmählich von der Nase tropfte, hatte ich Handwerker Flec vergessen. Der Singsang der Einser war besser als erwartet – nicht so schlecht, dass er die Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine Minute oder zwei sinnierte ich über die Geschichte von Saunt Bly. Danach dachte ich hauptsächlich an mich selbst und meine Lage in der Welt. Ich weiß, das war selbstsüchtig von mir und nicht das, was ich während des Aut hätte tun sollen. Aber ungebetene und unerwünschte Gedanken sind am schwersten aus dem Bewusstsein zu vertreiben. Man mag es geschmacklos finden, dass ich hier erzähle,
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