Anathem: Roman
beschränken wir die Flasche und die Kartoffel auf die x-Achse«, sagte ich, »und ignorieren wir ihre jeweiligen Drehungen.« Ich platzierte sie folgendermaßen:
»Kannst du auf deiner Tafel ihre jeweilige x-Lage notieren?«, fragte ich.
»Klar«, sagte er und zeigte mir einige Augenblicke später Folgendes:
x der Flasche
x der Kartoffel
7
1
»Ich werde sie jetzt zusammenstoßen lassen«, sagte ich, »natürlich in Zeitlupe. Bitte sei so nett und versuch, ihre jeweilige Lage festzuhalten.« Und ich begann ganz ähnlich wie zuvor, die Kartoffel und die Flasche in kleinen Schritten aufeinander zuzubewegen, wobei ich jedes Mal »Markieren« rief, wenn ich wollte, dass er seiner Tabelle eine neue Zeile anfügte.
»Die Flasche bewegt sich schneller«, bemerkte er, während wir arbeiteten.
»Ja. Doppelt so schnell.« Schließlich hielt ich die Kartoffel bei 3 auf der Flasche fest.
x der Flasche
x der Kartoffel
7
1
6
1.5
5
2
4
2.5
3
3
»Sie sind soeben zusammengestoßen«, sagte ich, »und werden nun also voneinander abprallen. Aber sie werden sich langsamer bewegen,
weil die Kartoffel bei der Kollision zerdrückt worden und ein Teil der Energie verlorengegangen ist.« Mit ein wenig Hilfestellung von mir fügte Barb der Tabelle mehrere auf den Zusammenprall folgende Punkte hinzu:
x der Flasche
x der Kartoffel
7
1
6
1.5
5
2
4
2.5
3
3
3.2
2.5
3.4
2
3.6
1.5
3.8
1
»So«, sagte ich, ließ die Projektile los und rappelte mich wieder hoch. »Dieser ganze Vorgang spielte sich entlang einer geraden Linie ab. Es handelt sich also um eine eindimensionale Situation, wenn man weiter in Saunt Lerpers Koordinaten denkt. Saunt Hemn allerdings würde hier etwas tun, was dir vielleicht seltsam vorkommt. Hemn würde jede Reihe der Tabelle als Beschreibung eines Punktes in einem zweidimensionalen Konfigurationsraum betrachten.«
»Er würde jedes Paar als Punkt behandeln«, übersetzte Barb, »der Anfangspunkt wäre also (7,1) und so weiter.«
»Richtig. Kannst du mir das graphisch darstellen?«
»Klar. Das ist trivial.«
»Das ist ja komisch!«, rief er dann aus. »Es ist, als hätte Saunt Hemn die ganze Situation auf den Kopf gestellt.«
»Gib mir mal einen Moment die Kreide, dann mache ich ein paar Anmerkungen, die dir helfen werden, daraus schlau zu werden«, sagte ich. Ein paar Minuten später hatten wir etwas, das so aussah:
»Die Kollisionslinie«, sagte ich, »ist nichts anderes als die Menge aller Punkte, wo die Flasche und die Kartoffel an derselben Stelle liegen – wo ihre Koordinaten einander gleich sind. Und jeder Theor, der sich diese Darstellung ansieht, kann auch ohne Kenntnis der physikalischen Situation – Flasche, Kartoffel, Boden – sofort sehen, dass es mit dieser Linie etwas Besonderes auf sich hat. Der Zustand des Systems schreitet auf geordnete, vorhersagbare Weise fort, bis es diese Linie berührt. Dann passiert etwas Außergewöhnliches. Die Trajektorie beschreibt eine Haarnadelkurve. Die Punkte rücken dichter zusammen – das heißt, dass die Objekte sich langsamer bewegen, und das wiederum heißt, dass das System irgendwie Energie verloren hat. Ich erwarte nicht, dass dich das völlig umhaut, aber vielleicht vermittelt es dir eine Ahnung davon, warum Theoren gern mithilfe des Konfigurationsraums über physikalische Systeme nachdenken.«
»Da muss noch mehr dran sein«, sagte Barb. »Wir hätten das auch auf einfachere Weise graphisch darstellen können.«
»Das ist einfacher«, insistierte ich. »Es kommt der Wahrheit näher.«
»Sprichst du jetzt von der Hyläischen Theorischen Welt?«, fragte Barb, halb flüsternd und halb genüsslich, als wäre das so ungefähr das Ungezogenste, was ein Fraa tun konnte.
»Ich bin Edharier«, antwortete ich. »Ganz gleich, was einige Leute hier vielleicht denken … das bin ich. Und natürlich sind wir bestrebt, das, was wir denken, auf die denkbar einfachste und eleganteste Weise auszudrücken. In vielen – nein, in den meisten – Fällen gelingt das mit Saunt Hemns Konfigurationsraum besser als mit Saunt Lespers Raum aus x-, y- und z-Koordinate, in dem man dich bis jetzt zu arbeiten gezwungen hat.«
Barb fiel etwas ein: »Die Flasche und die Kartoffel hatten jeweils sechs Zahlen – sechs Koordinaten im Hemnraum.«
»Ja, im Allgemeinen braucht man sechs Zahlen, um die Lage von etwas darzustellen.«
»Ein Satellit in der Umlaufbahn braucht auch sechs Zahlen!«
»Ja – die Bahnelemente. Ein Satellit in der Umlaufbahn braucht immer einen
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