Anatomie Einer Nacht
aufzustemmen, stattdessen steckt sie ihre Hand durch den Spalt, erfühlt eine Schulter und berührt sie, zunächst sanft, ein sanftes Tippen, aber der Mensch regt sich nicht, so schüttelt sie ihn etwas kräftiger, auch wenn ihr der Körper zu schmal vorkommt für einen der üblichen Betrunkenen Amarâqs, zu dünn –
zu zaghaft, Jens hat es nicht gehört, ihr Klopfen, er antwortete nicht. Julie setzte sich vor die Haustür, wartete, bis sie aus dem Inneren Schritte hörte, dann sprang sie auf und sprach ihn an, noch während er die Tür versperrte, doch er stieg in sein Auto, ohne zu antworten, und fuhr davon. Sie beschloss, zu bleiben, bis er wiederkäme.
Sie harrte drei Stunden aus: drei Stunden, in denen sie beobachtete, wie der Eisberg, den sie Vera getauft hatte, immer mehr von der Dunkelheit verschluckt wurde, obwohl er sich mit einem hellblauen Schimmer gegen sie wehrte; wie das Picknick der Kieselsteine durch den plötzlichen Regen einer Sommernacht aufgelöst wurde; wie die Brosche, ein Geschenk ihrer dänischen Urgroßmutter, unter ihren Sohlen zerbrach. Endlich tauchte Jens auf, aber er war nicht allein, Sivke war bei ihm, Sivke Carlsen, und Julie versteckte sich, rettete sich in letzter Minute hinter die Mauer.
Sivke und Jens verschwanden im Haus, Julie lauschte ihrem Gespräch, das durch die Fenster und Wände drang, sie blieb unschlüssig stehen, verwirrt vom vergeblichen Warten. Schließlich setzte sie sich auf denselben Platz wie zuvor, direkt vor die Haustür, sie rückte etwas nach rechts, in Richtung Straße, diese Stelle war nicht lauwarm wie jene daneben. Sie stemmte ihre Füße in die Erde, sie saß nicht, sie hockte, löste den Knoten an der Rucksacköffnung und zog einen dünnen Schal hervor, mit dem sie eine Schlinge knüpfte.
Eintausendfünfhundert Menschen leben in der größten Siedlung im Osten Grönlands, in Amarâq. Es ist kein Dorf, aber auch keine Stadt, sondern eine Territorialmarkierung. Alles von Menschenhand Erbaute ist ausschließlich für eine Übergangszeit errichtet worden, die nie ihr Ende gefunden hat, so dass die Grenzen der Stadt allgegenwärtig sind, obwohl der Mensch in Grönland winziger ist als anderswo: um etliches kleiner als die Einzimmerhütten, die man sich eher überzieht, als dass man sie betritt, und die, zerlegt und mit Anleitung, aus Dänemark importiert und innerhalb von drei Sommermonaten aufgebaut werden müssen, da ansonsten der Boden zu hartgefroren ist, um das Fundament zu legen, und um ein Vielfaches kleiner als die Berge, die die Stadt an drei Seiten umrahmen.
Seinem Wesen nach ist Amarâq lediglich ein Vorschlag, der darauf wartet, angenommen zu werden –
nichts ist überflüssig, alles ist notwendig, nichts existiert bloß, um zu existieren, alles hat zumindest einen, meistens mehrere Zwecke zu erfüllen: Die Post ist zugleich die Bank, der Supermarkt das Kaufhaus, Bekleidungshaus, Heimwerkerladen und Souvenirgeschäft, die Sporthalle das Fast-Food-Restaurant der Stadt, das Buchgeschäft ebenso ein Obst- und Gemüseladen sowie Café, und auch die Menschen haben mehrere Funktionen auszuüben, die Großmutter die der Tante, der Onkel die des Vaters. In Amarâq darf ausschließlich das existieren, was für das Überleben absolut notwendig ist: die Mindestanzahl an Einrichtungen und Menschen. Das Überflüssige hat sein Dasein aufzugeben, und weil es spürt, dass es überflüssig ist, verschwindet es, wird es verlassen oder verlässt sich selbst. Doch mit seinem Verschwinden mutiert die Einsamkeit, breitet sich als Isolation langsam in der Bevölkerung aus und infiziert jeden, der sie nicht leugnet, bis alle Bewohner Amarâqs den Keim einer tödlichen Krankheit in sich tragen.
Inzwischen richtet sich die Stadt auf diese Epidemie ein, duldet sie mit einer Gelassenheit, die unheimlich ist, und ein Gedanke wird zum Gesetz: dass es Amarâq nicht mehr gäbe, würde die Krankheit geheilt; dass das eine ohne das andere, die eine Geschichte ohne die andere undenkbar sei und man Angst haben müsse, dass, wenn die Wurzel der Krankheit gezogen würde, die ganze Bevölkerung, die an ihr hängt, mitherausgezogen würde und nichts anderes übrigbliebe als die Hülle der Stadt.
5 Hotel Amarâq , das einzige Hotel der Stadt, ein Schlafhaus mit elf Kojen, die nicht mehr enthalten als ein Bett, einen Schrank und einen Tisch, erlaubt es nicht, sich am Ende der Welt niederzulassen, sondern verstärkt das Gefühl der Einsamkeit, die tagsüber in der Stille
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