Anatomie Einer Nacht
hatte gerade einmal einen Blick erhascht, nun steckte sie in einer Zwischenwelt, in einem Zwischenstadium, dem sie nicht entfliehen konnte, seit Jens das Seil gekappt hatte, das sie mit der Gemeinschaft verband, und sie hatte fallenlassen. Und sie war gefallen ohne zu wissen, dass Liebe Einzigartigkeit vorgaukelt, wenn sie doch in Wahrheit auf Wiederholung angewiesen ist.
Julie beobachtete die Leere des Himmels, die zeitweilig von Wolken durchzogen wurde, das Blau, das unveränderlich, unbarmherzig herunterschien, als wäre es ein Abgesandter der Sonne –
plötzlich stand sie auf und hastete heimwärts. Zu Hause angekommen, ignorierte sie ihre Geschwister, Pia und Caroline, den falschen Zwilling, auch ihren Stiefvater, der sie grüßte, sie lief in ihr Zimmer, sperrte sich ein und kam erst wieder heraus, als es an den Rändern des Himmels zu dunkeln begann. Auf Johannas Frage, ob sie ein Abendessen wolle, sagte sie, sie sei nicht hungrig, auch ließ sie sich nicht auf ein Gespräch ein, sondern wandte sich ab, schlüpfte in ihre Jacke, in die Schuhe, schob Pia, die mit auf den Spaziergang wollte, so unsanft von sich, dass diese zu weinen anfing und getröstet werden musste.
Julie nahm Pias Tränen kaum wahr, sie verließ eilig das Haus.
Die Plastiksäcke sind schwer, sie enthalten die Schmutzwäsche der ganzen Woche, Inger muss die halbe Stadt durchqueren, um zum Waschhaus zu gelangen, vorbei an der Polizei, am Kinderheim, dann dem Straßenverlauf folgen bis zum Fluss am Beginn des Tals der Blumen. Sie erledigt ihre Wäsche gerne nach Einbruch der Dunkelheit, da die Waschküche zu dieser Zeit meistens verlassen ist.
Seit ihrem Umzug vor vielen Jahren ist sie auf dieser Straße mehrmals täglich unterwegs, und sie braucht nicht mehr auf den Boden zu achten, ihre Füße wissen bereits, wann sie ausweichen müssen, sie kann sich ganz auf das Bild konzentrieren, das die Nacht für sie bereithält: auf die eingesperrten Lichter, die hinter zugezogenen Vorhängen leuchten, flackern und manchmal glühen; auf die von der Schwärze geschorenen Gräser und Sträucher; auf den Fjord, der unverhohlen seine Tarnung aufgibt, sich als tiefschwarzes Loch entpuppt.
Inger liebt die Geräusche der Nacht, sie bezeichnet sie als Lieder und Gesänge, die Laute, die durch die Luft schwirren und deutlich machen, dass die Nacht in viele Teile, Ebenen, zergliedert ist, die einzig in diesen fünf Stunden das Korsett verlassen, das sich Tag nennt; wenn es keinen Unterschied macht, ob sich zu den vielen Nuancen, die die Finsternis besitzt, eine weitere dazugesellt oder nicht: wie die schwarze Katze, die mit abgewandtem Kopf die Straße entlangläuft und von der Inger kurz glaubte, als sie sie sah, sie wäre ein entflohener Schatten.
Schattenlose Menschen, hatte Ingers Vater gesagt, ehe er, ängstlich, verwirrt und nach vielen schlaflosen Nächten, nicht mehr sprechen und schlucken konnte (sein Speichel war als Schaum vor den Mund getreten, und er konnte bloß noch schreien, beißen und um sich schlagen, Wochen nachdem er versucht hatte, seine Tochter zurück nach Ittuk zu holen), schattenlose Menschen seien gefährlich, denn sie besäßen keine Seelen.
Sivke kramt in ihren Jackentaschen, sie leert sie und findet Münzen, ein Hustenbonbon, einen Bleistift, einen Lippenstift und Streichhölzer. Sie reißt ein Streichholz an, der Luftzug bläst es aus, wahrscheinlicher ist, es war ihr Atem. Sie versucht ein zweites zu entzünden, doch es zerbricht, ihre Finger zittern zu sehr. Das dritte ist bereits benutzt, eines mit schwarzverkohltem Kopf, nun ist die Schachtel leer, sie flucht, beginnt in ihrem Rucksack zu wühlen.
Kein Feuerzeug.
Sie lässt den Rucksack sinken und starrt auf den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Es ist draußen heller als drinnen, Dunkelheit dringt durch die Fuge, lässt die Kanten des Lichtschalters von der Wand abstehen, verwandelt sie in die Schluchten eines Miniaturtals. Sivke knipst das Eingangslicht an, das Schnappen des Schalters zerschneidet die Stille, schon hört sie Jens aus dem Schlafzimmer rufen, Sivke, ist alles in Ordnung?, doch noch bevor sie antworten kann, nein, die Tür klemmt, sieht sie eine Hand –
das gezähmte Licht der Vorzimmerlampe denkt nicht daran, den Anblick zu verschönern, stattdessen fällt der Strahl auf die einzelnen Glieder; Sivke erstarrt.
Erst nach ein paar Sekunden, sie erscheinen ihr wie eine Ewigkeit, kann sie sich rühren, sich hinknien, doch sie traut sich nicht, die Tür
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