Anatomie Einer Nacht
aller Kraft ins Innere, drängt und schiebt sich hinein, vorbei an den Türstehern in Grau, vorbei an der Garderobe, wo zehn dänische Kronen Eintritt gezahlt werden müssen. Hier wird der Handrücken mit einem Stempel markiert, dann verschwinden die Ringe in den Hosen- und Rocktaschen, erst jetzt ist man bereit für das Säulenzimmer mit den blitzenden Diskokugeln: Tanzpalast.
Inzwischen ist die Schlange vor dem Pakhuset längst zu einer Wolke mutiert, in deren Mitte man sich stumm und verbissen um die größtmögliche Nähe zum Eingang balgt, an den Rändern aber wird schon seit einer Stunde bei Dosenbier und Telefonmusik anonym gefeiert, anonym, da an dieser Ecke des Hafens das Feiern unter Ausschluss der Identität stattfindet. Es könnte jeder sein, der hier, in der finsteren Peripherie, singt, tanzt und trinkt.
Anders Tukula, der immer mehr aus dem Kern hinausgedrängt wurde, weiß nicht, wessen Bierdose er sich geschnappt und ausgetrunken hat, er hofft, es war Brians, Brian selbst ist in der Meute verschwunden. Er lässt die Dose fallen, zertritt sie, denkt kurz daran, seine Freunde zu rufen, entscheidet sich aber dagegen, schlängelt sich stattdessen durch die Menge, bis er am Hafen steht. Er blickt auf die Leerstelle, die der Fjord jede Nacht hinterlässt, und wird von ihr regelrecht verschluckt, bald fühlt er seinen eigenen Körper nicht mehr, bloß noch ein Brennen in den Augen, die müden Beine und die Kälte, die sich schleichend ausbreitet, als wäre sie eine dunkle Vorahnung.
Er hat das Gefühl, sich leise verhalten zu müssen, da er eine Nebenfigur ist, die Hauptfigur, der Held, ist nach wie vor die Natur.
Anders, komm her!
Er löst seine Augen widerwillig von diesem Bild, das ihm erlaubt, spurlos in sich selbst zu verschwinden.
Anders, schläfst du?
Brian und Jakob winken, fuchteln, wir haben den Seiteneingang gefunden, rufen sie, Jakob hüpft ein paarmal auf und ab, ehe er im Schatten des Mondes verlorengeht, Brian läuft auf Anders zu.
Komm, schnell!
Jens kniet auf dem Asphalt.
Er beugt sich über Julie und versucht, den Knoten, den Strick um ihren Hals aufzuknüpfen, doch seine Finger zittern, und im Zittern wickeln sie neue Schleifen, anstatt die alten zu lösen. Er muss kurz innehalten, die Hände auf die Oberschenkel legen und sich beruhigen, ehe er einen neuen Versuch wagt.
Endlich gleiten die Enden auf Julies Schultern und von dort in ihren Schoß. Der Strick ringelt sich zusammen und verwandelt sich wieder in den Seidenschal, den ihr Jens vor einer Woche gab, als er sie husten hörte. Es ist das Tuch seiner Freundin, das ihn irrtümlich auf die Reise nach Grönland begleitete. Es hatte all die Wochen nach der Trennung in seiner Innentasche gelebt, und Jens fand, es passe besser zu Julie, denn es ist grau und schwarz mit silbrig blauen Fäden: Es trägt das Sommerkleid der Berge.
Er ruft ihren Namen, mehrere Male, sie reagiert nicht, auch nicht, als er sie rüttelt, er weiß, es ist unsinnig, dies zu tun, er tut es dennoch. Ebenso sinnlos erscheint es ihm, an den Handgelenken und am Hals nach einem Puls zu suchen, ihren Körper flach auf die Erde zu betten, die Hände übereinander auf ihren Brustkorb zu legen und zu drücken, dreißigmal, danach ihren Kopf vorsichtig zu heben, ihn ein wenig in den Nacken fallen zu lassen, ihre Nase mit Daumen und Zeigefinger zuzuhalten und seinen Mund auf ihren zu pressen und auszuatmen, eine Sekunde lang, ein verkehrter Kuss oder weniger ein Kuss als vielmehr ein Loslassen, Losschicken.
Die Haare noch nass, das Gesicht feucht, schlüpft Keyi in die frischgewaschene und getrocknete Kleidung, in die Socken, die Unterhose, die Hose, das Hemd und den Pullover, die ihm in ihrer körnigen Steifheit so neu erscheinen, so frisch, neugeboren fast: als hätte er sie eben erst gekauft und aus der Verpackung geschält. Er legt die Reservesocken und die Weste zusammen und in das Regal, in das Fach über der Blechdose mit dem Waschpulver, zählt die Bierdosen, die er im Lauf der Woche vor dem Supermarkt Pilersuisoq zusammengebettelt hat, und kommt auf sieben Drittel-Liter-Dosen. Er weiß, dass er nach der fünften betrunken sein wird und wünscht sich eine achte, eine neunte, sie würden ihn schnell einschlafen lassen, und er fragt sich, ob er zum Pakhuset gehen und schauen soll, ob er sie noch auftreiben oder ob er die Kälte in den Bergen riskieren kann, zu nüchtern für seinen Geschmack. Die Entscheidung fällt ihm nicht leicht. Er muss sich in die
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