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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Doch niemand interessiert sich für die Sitzplätze, die Wartenden gehen auf und ab, auf und ab, ein zielgerichtetes Gehen, wie es scheint, wenn auch das Ziel kein Ort, sondern die Bewegung ist. Auch Jens meidet das Sitzen, und während er sich fragt, ob er es hätte verhindern können, ob es seine Schuld ist, und sich sein Kopf bei dieser Frage zugleich leert und füllt und der Boden unter seinen Füßen einen Riss bekommt, der sich quer durch das Linoleum frisst, jedoch an den Stuhlbeinen haltmacht, die mit solcher Gewalt ins Plastik gerammt sind, dass man sie nicht verrücken könnte, stellt Tobias Boest fest, dass er nichts mehr für Julie Hansen tun kann. Er schickt die Schwester aus der Ambulanz und greift zum Telefon –
    Jens setzt sich, als sie ihn anspricht.
    Vielleicht glaubte Inger im ersten Moment, es sei ein Spuk, einer jener Geister, die Malins Haus befallen hatten, so dass es sich nicht mehr weiterverkaufen ließ und die unglückliche Besitzerin auf immer an Amarâq gebunden war, doch als sie näher kommt, erkennt sie im Schatten mit den regelmäßigen Rändern einen Menschen, die Frau, von der man sich kurz vor ihrer Ankunft erzählte, sie sei verrückt geworden, nachdem sie die Leiche ihres Geliebten identifiziert hatte.
    Ihre Familie hatte sie gewaltsam aus Amarâq fortbringen müssen, zunächst nach Kopenhagen, zu ihrem dänischen Vater, der sie jedoch bereits nach einer Woche vor die Tür setzte, da die Stiefmutter, die das illegitime Kind einer Wilden nicht anerkannte, den eigenen Nachwuchs nicht länger dem schädlichen Einfluss aussetzen wollte, so dass ihr, der Unerwünschten, nichts anderes übrigblieb, als in die Heimat zurückzukehren; doch sie hielt sich nicht in der unmittelbaren, sondern in der fernen auf, bis sie sich stark genug fühlte, dem Gespenst der Vergangenheit ins Auge zu sehen. So munkelte man, und Inger hatte dieses Gerücht in verschiedenen Variationen gehört, während sie hinter der Theke im Buchgeschäft Kaffee und Tee kochte, Milchshakes zubereitete, Schokoriegel, Gummischlangen und Obst verkaufte –
    die verschnürten Blätter der Buchhaltung schob sie unter die Tastatur, sortierte die Postkarten in der Holzkiste, rückte die Bücher in den Regalen zurecht, als sie Gunnar, den Taxifahrer, vor dem Fenster parken sah. Er hatte sich sein Auto aus Dänemark einfliegen lassen, einen Geländewagen, und dafür sein gesamtes Vermögen ausgegeben, Freunde fütterten ihn durch, seit einem Monat wurde er von ihr bekocht. Inger schnippte den kitzelnden Zweig von einem Zopf von der Schulter und wollte die Ladentür abschließen, als Niels, der Vater ihres Kindes, das Geschäft betrat. Er schob sie zur Seite, griff nach ihrer Handtasche und zog aus einem Seitenfach alle Geldscheine heraus, die Münzen ließ er zurück. Du hast ohnehin einen reichen Dänen, murmelte er noch, ehe er im Rücksitz von Gunnars Auto versank.
    Während sie auf dem Weg ins Waschhaus die Griffe der Plastiksäcke fester umfasst, betrachtet sie Sivke im kahlen Straßenlicht, als wäre diese ein Gemälde.
    Die Farbe ist verlorengegangen, das Papier dünn, abgeschmirgelt, Magnus sagt, er stelle sich vor, dass die Fotografie auf die Buchseiten abgefärbt habe, zwischen denen sie in all den Jahren steckte, und er meint, das sei gut so, er brauche sie jetzt nicht mehr. Durch das gekippte Fenster weht der Geruch von getrockneten Fischen und feuchtem Holz ins Zimmer, ihnen gegenüber beginnt die Gefriertruhe ihren Nachtgesang, ein Brummen, das den Boden zum Vibrieren bringt, da ihre Form und Größe der eines wuchtigen Holzsarges entspricht, lagern in ihr doch die Vorräte für einen Winter, Herbst und Frühling. Sie springt immer dann an, wenn man es am wenigsten erwartet, mit einem Murren, das sich mit der Zeit zu einem Grollen steigert und schließlich den Lärm einer Baustelle imitiert, so dass Magnus schon oft daran dachte, den Stecker aus der Dose zu ziehen, es aber aus Angst vor dem auslaufenden Eiswasser, das ihn im Schlaf ertränken würde, nie wagte.
    Ein kniehohes Regal steht verkehrt herum im Raum, die Rückseite, ein durchgebrochenes Holzbrett, der Raummitte zugewandt, auf ihm lagern zwei Schachteln mit Krimskrams, und an der Wand hängt eine nackte Glühbirne neben der gestickten Geburtsanzeige Magnus Karl Gustav Uuttuaq 3,300 kg 51 cm . In der hintersten Ecke des Zimmers stehen fünf Umzugskartons aufeinandergestapelt, in denen Kleider, Schuhe und Bücher, besitzerlose Besitztümer liegen. Sie sind

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