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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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lauert, nachts aber vorgibt zu schlafen, indem es die Gäste voneinander separiert aufbewahrt. Die Fremden, solcherart eingeteilt, versuchen einander so wenig wie möglich zu begegnen, der Kontakt ist auf ein Minimum reduziert, auf ein Morgengespräch, den Gruß vor der Nachtruhe, als könnte ein überflüssiges Wort die Sicherheit des Unbekannten verletzen.
    Es ist ein dunkelrotes, schlauchförmiges Blockhaus, das sich eng an die Erde schmiegt, dabei hoch über den drei Seen, dem Tal der Blumen und dem Friedhof thront und seit ein paar Tagen menschenleer ist, die letzte Touristengruppe flog Mitte der Woche zurück nach Island, nun surren Mückenknäuel von Windloch zu Windloch und machen es notwendig, dass die Eingangstür, obwohl sie klein und schwer zu entdecken ist, von Moskitonetzen verhangen bleibt, so dass man ein Gitterlaken nach dem anderen durchkraulen muss, um in das Innere, in das Souvenirgeschäft, Präludium zur Hotelrezeption, zu gelangen, wo kleine, aus Knochen geschnitzte Figuren, Robben, Eisbären und Menschen in vergessener Tracht, sowie Fliegennetze, Taschen, Jacken, Hosen und Pantoffeln aus Robbenfell verkauft werden. Der Laden wirkt von innen noch viel kleiner als von außen, und über den Regalen liegt ein feiner Nebel, der den ganzen Raum in ein All verwandelt, durch das die Knochenfiguren wie Astronauten schwe-ben.
    In Zimmer Nummer acht häuft Sara Lund den Inhalt ihres Reiserucksacks, Kleidung, Bücher und Waschutensilien, auf das Bett. Sie ordnet den Besitz nach seiner Funktion, schlichtet ihn in Plastiktüten, die sie aber noch nicht verschließt. Ihre Jeans, ein Paar Socken und ein T-Shirt hängt sie über die Stuhllehne. Sie hievt den Rucksack auf die Matratze, nimmt aus einer Seitentasche ihren Reisepass und ihre Geldbörse heraus und legt beides auf das Kissen. Aus einem Innenfach, der Reißverschluss klemmt, sie muss mehrmals daran ziehen, bis er sich bewegt, fischt sie ein längliches Etui, in dem ein Kugelschreiber steckt. Sie setzt sich an den Tisch, öffnet das Notizbuch und schreibt in die linke Ecke Amarâq, am 31. August 2008 .
    Das Hotel ist ein zwiespältiger Ort: Einerseits herrschen in ihm ferne Lebensumstände, andererseits ist deutlich der Versuch zu erkennen, die Unterschiede so weit auszugleichen, dass das Besondere, auf ein Prinzip reduziert, zum Allgemeinen verkommt, zu einem Wohngerippe ohne Persönlichkeit, ohne Charakter: zu einem Platz, an dem sich das Leben unterbricht.
    Sivke drückt gegen die Tür, der Spalt vergrößert sich, sie kniet sich hin, klappt ihr Telefon auf und hält es wie eine Taschenlampe an den Schlitz. Sie glaubt, eine Schulter zu erkennen, einen Nacken und etwas Haar, sie erahnt die Haarfarbe, braun, und die Länge, schulterlang, als sie ein schwaches Pochen erschreckt.
    Sie fährt zurück, das Telefonlicht erlischt, und starrt in ein Schwarz, schwärzer als zuvor, als die Augen an die Farbe der Dunkelheit gewöhnt waren und für kurze Zeit die Prinzipien des nächtlichen Sehens verstanden hatten. Sie starrt in das Nichts, weil ihr nichts anderes übrigbleibt, als zu starren, noch weigert sie sich, einzugestehen, dass die Nacht Informationen zensiert. Hallo, fragt Sivke leise, wer ist da? Sie horcht, kriecht so nahe, wie sie es wagt, an den Luftzug heran, der hereinweht, eine kühle Brise wie ein Strom, von eigenartig zäher Konsistenz und mit einem eigenen Geruch, dem Duft nach Feuchtigkeit, dem abwesenden Tag, sowie mit einem eigenen Klang, einem zarten Zischen, als schnitte sich die Luft an den Kanten des Türrahmens.
    Sie wartet, kauert und wartet, die Knie schmerzen, sie versucht, ihr Gewicht besser zu verteilen, mehr auf dem rechten Fuß zu hocken als bisher. Sie verliert die Balance und muss sich an der Wand festhalten. Findet das Gleichgewicht wieder, lauscht, noch immer das gleiche Geräusch, das sich Stille nennt; hätte es seinen Laut verändert, hätte sie der Mut verlassen. Vorsichtig pirscht sie sich erneut an, sie nähert sich, Kopf voran, dem Riss in der Mauer, als sie eine Hand auf dem Arm spürt.
    Was machst du da?
    Jens wartet ihre Erklärung nicht ab, sondern zerrt sie zu sich und rüttelt am Griff. Die Tür gibt ein wenig nach, er drückt dagegen, sie bewegt sich ein Stückchen vorwärts, er stößt mit Schulter, Knie und Fuß gegen sie, sie gibt dem Druck nach, und die Begleitmelodie, ein hartnäckiges Schleifen, verebbt.
    Er schaltet das Eingangslicht ein und tritt nach draußen.
    Die Menschentraube zwängt sich mit

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