Anatomie Einer Nacht
mit einer dicken Schicht Staub bedeckt, der von Zeit zu Zeit aufwirbelt und durch den Raum schwebt, ehe er sich in den Ecken zusammenrottet.
Ole fragt, wer der Mann auf dem Bild sei. Magnus antwortet nicht sofort, erst nach einer langen Pause sagt er, es sei sein Onkel, er sei vor einem Jahr gestorben.
Wenn man das erste Mal einen sterbenden Menschen sieht, versteht man einerseits nicht, was man sieht, andererseits weiß man genau, was man sieht. Vielleicht ist es auch weniger ein Wissen, im Sinne von Erkennen, sondern ein Verstehen, das sich zunächst auf einer emotionalen Ebene vollzieht, man versteht fühlend, doch genau darin liegt das Verhängnis: Wenn man fühlend versteht, vergisst man nie wieder. Und eine Möglichkeit wächst heran, die bald mehr als eine Möglichkeit ist, nämlich eine Alternative, ein Ausweg –
das Wissen, den Ausgang der Geschichte selbst bestimmen zu können. Der Tod, bisher nur fiktiv, eine Erzählung, eine Legende, wird durch diese erste Begegnung monumental und lässt sich nicht mehr aus dem Leben rücken: Er beginnt mit seiner Anwesenheit alles Gegenwärtige und Zukünftige zu verstellen. Von diesem Moment an besitzt man die Fähigkeit, Sterbende zu erkennen.
Als Inger Freitagnacht Sivke begegnet, weiß sie, mit wem sie es und was sie zu tun hat. Es ist, als ob der Zufall sie geteilt und ihr gegenübergestellt hätte. Dieses Wissen ist nicht sofort da, sondern wächst mit jeder Sekunde, dann fällt das Straßenlicht aus, und die Frauen stehen in der Finsternis, sie sehen einander nicht mehr, doch selbst der vage Blick in der Dunkelheit reicht für Gewissheit. Schließlich lächelt Inger kurz zum Abschied, ihr Lächeln begnügt sich mit den Augen, und Sivke erwidert die Geste, dreht sich um und wird langsam, Schritt für Schritt, von der Nacht verwischt.
Nun gibt es nichts mehr, das ihn hält. Keyi verstaut das Bündel Habseligkeiten unter dem Tisch. Noch etwas sitzen bleiben, denkt er, noch etwas sitzen bleiben und die stille Wärme genießen, die Darbietung der Nacht, es fehlen lediglich, denkt er, ein Kaminfeuer und die Robe, in der er verschwinden könnte, wie damals in Kopenhagen, wie lange ist es her, zwanzig, dreißig Jahre, diese Frage unterbricht den Strom der Erinnerungen, was für ein Unruhestifter doch die Akribie ist, Keyi schüttelt sie weg und möchte das Feuer, das Knistern und die Robe näher inspizieren, als die Eingangstür geöffnet wird, er hört das leise Knarren der Scharniere im benachbarten Raum und duckt sich, als könnte ihn die dünne Tischplatte verbergen.
Die Schritte nähern sich der Waschküche, etwas wird abgestellt, es raschelt, es klingt nach Plastik, ein Reißverschluss wird geöffnet, Münzen werden eingeworfen, die Trommel wird mit Wäsche gefüllt, was diesen charakteristischen Klang ergibt, wenn Stoff auf Metall fällt, ein weiches Flattern mit kaltem Abschluss, Keyi schleicht näher an die Geräusche heran, presst ein Ohr an die Wand und erlauscht eine gesummte Melodie, den Laut einer menschlichen Stimme, er flimmert durch das Holz und wühlt sich in sein Gedächtnis: Ein ähnliches Lied hörte er früher jeden Abend, gesungen von Kristina, wenn sie kochte, dann brach es ab, wann immer das Gemüse in der Pfanne zischte, und schwoll an, wenn der Eintopf köchelte. Jeden Abend gegen sechs Uhr kündigte sie ihre Ankunft vom Treppenabsatz aus an, ein Lockruf, ehe sie die Stufen hinunterlief, in der Mitte von Asgar, dem Kater, abgefangen wurde, der diesen Wettlauf stets gewann, und er, Keyi, sie danach in seinen Armen verstauen durfte, zumindest für eine Minute, ehe sie sich befreite, zum Kühlschrank ging und das Gemüsefach leerte, um enttäuscht festzustellen, dass sie nichts im Haus hätten, ein Ritual, das ein einziges Mal unterbrochen wurde, als sie noch vor der Begrüßung sagte, sie sei schwanger.
Im Waschraum füllt Inger die Maschine mit Waschpulver und Kleingeld, drückt den Start-Knopf und geht in die Teeküche, sie geht nicht, sie schlendert, ihre Fersen federn nach, die Fußballen wippen, und in ihren Augen liegt der Vorsatz, Sofie alles zu erzählen, bevor sie –
sie bricht den Gedanken ab, wiederholt Sofie alles erzählen und setzt Teewasser auf.
Sivke klettert über umgestülpte Ruderboote, die leeren Wasserkanister der Fischer, geht auf aufgerollten Seilen, tritt auf Spaten, sie klettert blind; sie kennt diese Gegend auswendig, sie ist hier aufgewachsen, hier, am Fjord.
Sie tastet sich an einem ausgemusterten
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