Anatomie Einer Nacht
Kaffeeküche setzen, an den Tisch, und die restlichen Kekse knabbern, das Salzgebäck, das er in einer Ecke des Küchenkastens gefunden hat, die Kaubonbons lutschen, die aufgrund ihres Alters fast eins geworden sind mit dem glitschigen Papier, und er meint, eine Tasse Kaffee würde dem Denken guttun, also beginnt er, Wasser zu kochen, und es scheint ihm, als wäre sein Plan undurchführbar, als müsste er verschoben werden, denn es fehlen ihm zwei Dosen Bier.
In diesem Moment wird ihm klar, dass für ihn nur diese eine Stunde im Waschhaus, zwischen zehn und elf Uhr nachts, lebenswert ist: wenn sich die Wolken vom Nachthimmel abheben, geisterhaft weiß, wie Erinnerungen aus einer fernen Welt.
Sivke erstarrt, als sie Julie erkennt.
Sie rührt sich nicht, auch nicht, als Jens, der beim Versuch, Julie hochzuheben, abrutscht, sie um Hilfe bittet, um Hilfe anbrüllt, das Mädchen schließlich absetzen und an den Schultern zum Auto zerren muss. Die Steinchen, die unter die Schuhe geraten, springen links und rechts weg, als würde sie eine unsichtbare Hand wegschnippen. Er legt sie auf die Rückbank, schlägt die Tür zu und ruft nach Sivke. Sivke reagiert nicht, sie ist noch immer im Haus, blass, grau, Jens rennt zurück, schnappt nach ihrem Arm, doch sie wehrt sich, stemmt sich gegen ihn, und er muss ihre Taille mit beiden Armen umfassen und sie zum Auto schieben. Sie tritt ihn, beißt ihn, schlägt um sich, versucht sich zu befreien und wegzulaufen, aber Jens stößt sie auf den Rücksitz, wirft die Wagentür zu und fährt los, während sie sich gegen die Scheibe drückt, stumm, am Griff rüttelt, schließlich so weit wie möglich von Julie wegrückt.
Als sie das Spital erreichen, als Jens die Wagentür öffnet, fällt sie ihm entgegen, rappelt sich schnell auf und flüchtet –
verschwindet in der Dunkelheit, so plötzlich, dass es ihm scheint, als hätte jemand sie ausgeknipst.
Und sie rennt.
Es ist ein Bild in ihrem Kopf gewachsen, es war schon früher da, nur hatte es sich unter einem Stapel alter Erinnerungen versteckt. Nun hat es sich aus dem Stoß ins Freie geschmuggelt, ist wiederauferstanden, und obwohl sie im letzten Jahr nichts anderes getan hat, als zu versuchen, ihm zu entkommen, hat es sie erreicht und sich Verstärkung geholt: Es hat sich vermehrt. Vergeblich versucht Sivke, diese Bilder zu trennen, zu entwirren, im Laufen glaubt sie, dies zu schaffen, denn wenn sie sich bewegt, fühlt sie die Gegenwart, und genau das ist es, was sie braucht. Sie möchte eine Bestätigung dafür, sich genau in diesem Augenblick zu befinden und in keinem anderen. Sie kann es nicht zulassen, in die Vergangenheit katapultiert zu werden, wie all die Male zuvor … Doch das Laufen erfüllt seinen Zweck nicht mehr, die Beine bewegen sich automatisch, und die Gedanken machen sich selbständig. Es gelingt ihr nicht, die Bilder zu kontrollieren, sie werden schärfer, es ist unvermeidlich –
23 Jahre alt. 1,73 Meter groß. 62 Kilogramm schwer. Gesicht, Rumpf und die Außenseiten der Unterschenkel sind mit Schlamm bedeckt. Die Nackenregion und der Rücken unverletzt. Das Kopfhaar kurz, glatt und schwarz. Auf der Stirn eine drei Zentimeter lange, klaffende Risswunde, die bis zum Knochen reicht. Die Augenregion mit Schlamm überzogen. Die Augenfarbe verblichen. Auf dem Nasenrücken zwei Schnittwunden. Das Nasengerüst intakt. In den Nasenöffnungen reichlich Schlamm. Das Lippenrot erweicht. Auf der Unterlippe, innerhalb des Lippenrots, eine bohnengroße, dunkle Bisswunde. Kaum Bartwuchs. Das Kinn an der rechten Seite schwärzlich verfärbt. Die Genitalien aufgeweicht. Die Haut an den Füßen und Armen deutlich aufgequollen und faltig, aber nicht abgelöst. Die Zehennägel sitzen noch fest. Quetschwunden an den Knien, an der Innenseite der Kniegelenke und an der Außenseite der Oberarme, grauschwarz. Schleifspuren an Hand- und Fußrücken. Halbmondförmige Schnittwunden, zwei Zentimeter tief, an der Außenseite des rechten Oberschenkels, vermutlich verursacht durch eine Schiffsschraube.
Gefunden Wochen nach seinem Verschwinden.
6 Es scheint Jens, als habe er eine Ewigkeit gewartet, in diesem kleinen Vorraum, der mit seinen hellgelb gestrichenen Wänden jede Krankheit verharmlost und die Tatsache herunterspielt, dass seine achteckige Form ein verunglückter Kreis ist: ein runder Raum, für den nur wenige Stühle gefunden wurden, nämlich solche, die an die Wand gestellt werden konnten, ohne sich mit der Rundung anzulegen.
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