Anatomie Einer Nacht
Kühlschrank vorbei, weicht den Steinen aus, die sich am Strand aneinanderkauern. Das Summen der Fliegen ist verklungen, und die Hunde singen nicht mehr, sie knurren, als Sivke auf ihre Pfoten und Schwänze tritt, ein uraltes Knurren im brechenden Wind. Sie watet zunächst, lässt sich dann ins Wasser gleiten, schwimmt zu den ersten Schiffen –
die Schuhe fallen von den Füßen, Wellen tragen sie zurück ans Ufer.
23:00 – 00:00
1 Drei Stunden östlich von Amarâq liegt Ingers Heimat, zerknittert, zerknüllt, in einem Talkessel: Ittuk. Ein Wellenrudel streicht um die Bucht am Hafen, pflückt, mit kurzen Stößen, Steine, Bausteine des Ufers, das sich frühmorgens mit dem Himmel verbündet, das Land sonst zu schwach, um sich gegen das Wasser zu behaupten, gegen die Gischt, die ständig nach den Landzungen schnappt, ein zischendes, kaltes Schnappen und Brodeln, und gegen die Eisberge, die vorgeben, Erdberge zu sein, und sich in dieser Verkleidung der Insel nähern, um sie zu erobern, als wäre der Ozean nicht groß genug.
Denkt Inger an Ittuk, denkt sie an Niels in Ittuk: ein Fremdkörper, die Beine ausgezehrt, knöchern, die Jacke zerfranst, fast schon wollig, die Nase gebogen, ein Schnabel, auf dem Nasenrücken die Brille mit breitem Rahmen und Gläsern, die seine Augen stark verkleinern, und bei jedem Schritt wippt er leicht mit dem Kopf, als würde das Verneigen vor dem Boden das Stelzen erleichtern, durch und durch Vogelmensch Niels. Und sie erinnert sich, dass die Nacht mondhell war, doch sein Gefiederkleid schwarz, so nahm ihn niemand wahr, nur wenn er den Mond verdeckte und einen langen Schatten warf, der von einzelnen, hochgewachsenen Grashalmen zerschnitten wurde. Inger gefiel ihm, denn sie erinnerte ihn an den Tag, die Berge, Hügel und Täler im klaren Mittagslicht, und an die Wolken, die dicht über der Erde schweben, ehe sie mit der Sonne kollidieren, und er verwandelte sich in einen Mann und sprach sie an, und sie verliebte sich in ihn, denn seine Stimme erinnerte sie an das Meer, über ihr lag ein eigenartiger Hall, als stünde er an der Küste und müsste mit jedem Wort gegen den Wind ansprechen, und sie folgte ihm, schlich in der Stille des Tages aus dem Haus und bedeckte die Augen aus Angst, sie würden entdeckt werden und man würde sie aufhalten, und sie flohen auf einem Boot in die Hauptstadt.
Dies erzählte sie Sofie, dem kleinen Mädchen, das noch nicht versteht, aber die Worte werden in sein Gedächtnis sickern und von dort, wenn es alt genug ist, ans Tageslicht kommen, zuallererst die einzelnen Knochen, dann das Skelett, schließlich die ganze Geschichte mit Haut und Haaren.
In Kristinas Kleiderschrank in Kopenhagen, in einer Zweizimmerwohnung zehn Minuten vom Tivoli entfernt, schlief zusammengerollt der Siamkater Asgar, der jeden Morgen nach dem Strahl aus dem Wasserhahn tatzelte und mit Vorliebe hinter Türen, Kommoden, Tischbeinen oder Sofaecken menschlichen Fersen auflauerte, um sich auf sie zu stürzen, wann immer seine Augen anfingen, bei Lichteinfall rot zu glühen, zwei kleine Monde am Aufgehen, dachte Keyi, wenn er, obwohl Kristina ihn warnte, seine Hand ausstreckte, um Asgars Gesicht zu berühren, die dunkelbraune, fast schwarze Stirn, die immerfeuchte Nase und die widerspenstigen Schnurrhaare, die sich trotz wiederholter Versuche nicht umbiegen ließen. Schließlich schlossen sie Waffenstillstand, und Asgar attackierte bloß noch seine Hand, wenn sich diese den Katerbacken näherte.
Keyi traf Kristina Olsen das erste Mal im Kleinen Kaufmann in Amarâq, wo sie so lange vor den wenigen, spärlich gefüllten Regalreihen auf und ab ging, dass er sich fragte, ob sie überhaupt etwas kaufen oder sich nur aufwärmen wollte, und er begann sich zu ärgern, denn ihre ganze Gestalt, ihr Aussehen, die langen rotblonden Haare, die blauen Augen, die einen kalten Blick gefangen hielten, die weiße Haut, übersät mit rötlich braunen Sommersprossen, erinnerten ihn an die vierzehn Monate in der Bernstorffsgade, in die er mit elf Jahren geschickt worden war, zusammen mit zwölf Klassenkameraden, gegen den Willen seiner Eltern, die ihren Protest nicht schriftlich ausdrücken konnten, weil sie nie richtig Schreiben und Lesen gelernt hatten. Er wurde zu einer dänischen Familie mit einer achtjährigen Tochter gesteckt, musste in einer kleinen, dunklen Dachkammer auf einer Matratze am Boden schlafen, und die Gastfamilie verbot es ihm ausdrücklich, Grönländisch zu sprechen, jedes Mal,
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