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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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nicht als Gesichter wahr, sondern als Gesichtsteile, oft ausschließlich die Münder, die sich zu Lauten bewegten, die vertraut klangen und ihn in eine vergangene Zeit zogen, als er sein Versagen in Form von Buchstaben vorgehalten bekam, in Form von Worten, die ihn wiederholt ermahnten, weniger er zu sein –
    und schließlich weigerte er sich, sie zu entziffern, er gab auf und begnügte sich damit, das zu sein, was er von Unterrichtsbeginn an hatte sein sollen: Einer, der es, wie seine Eltern und Brüder vor ihm, nicht schaffen würde, aber deswegen umso mehr in diese Welt passte, nach Amarâq, wo es nichts ausmacht, niemand zu sein, denn die unendliche Natur verkleinert und löscht alle Unterschiede aus –
    und während seine Eltern von der Sozialhilfe, die sie am Freitag zwischen neun und zwölf Uhr im Postamt kassieren, Bier kaufen, das ihren Rausch bis Sonntagabend aufrechthält, da sie es verstehen, sich bewusstlos zu trinken, dann auf dem Boden der Wohnung herumzurollen, je nachdem wohin man sie tritt, versucht Ole den Gestank des Erbrochenen zu ignorieren, der sich zu Hause, in der Luft und in den Wänden, eingenistet hat, in seiner Kleidung, in seinen Haaren, in seiner Haut, ein Gestank, den er nicht abwaschen kann, auch wenn er sich jeden Morgen in der Dusche der Schule, verstohlen, mit einem Stück Seife, das ihm Magnus geschenkt hat, abschrubbt –
    die Kotze wird er nicht los, sie hat sich mit den Tritten des Vaters, den Schlägen der Mutter in seine Nase geätzt.
    Sein Magen knurrt.
    Bist du hungrig?
    Ole nickt.
    Komm.
    Magnus öffnet leise die Tür, steckt seinen Kopf durch den Spalt, sondiert die Lage. Niemand da. Schlüpft in den dunklen Gang, die Treppe knarrt bei jedem Schritt, sie führt ihn direkt in die Küche, dort stöbert er in den Schränken, holt einen Beutel Toastbrot hervor, Butter, Marmelade, Wurst und Orangensaft.
    Bedien dich.
    Ein Geräusch aus dem Duschraum schreckt Inger auf.
    Ihr erster Impuls ist verstecken und ducken, schnell sieht sie sich um, ob sie unter den Tisch kriechen oder in eine finstere Ecke schlüpfen könnte, dann aber verwirft sie den Plan und horcht. Sie ist es gewöhnt zu lauschen, als Frau eines Jägers betrieb sie das Hören auf professionelle Art. Niels, der zwischen seinen Obsessionen nicht unterscheiden konnte, der das Jagen besessen betrieb und ebenso das Träumen, das Lieben und Hassen, Schwarz und Weiß, keine Grauzonen in seiner Welt; der seiner Beute tagelang nachspürte, wochenlang, ihre Gewohnheiten studierte, ihre Vorlieben, um so ihre Wünsche zu erahnen und herauszufinden, wann sie am verwundbarsten waren. Wenn sie glücklich waren, schlug er zu, denn er wusste, sie würden sich, gelähmt vor Glück, nicht wehren können, und lange machte sich seine Strategie bezahlt, er war einer der erfolgreichsten Jäger Amarâqs, trotz seiner vernarbten Augen, man achtete und respektierte ihn und sagte ihm nach, er sehe in seinen Träumen, wo die besten Jagdgründe seien und was er als Nächstes erjagen würde –
    bis er sich eines Tages seiner Beute ausgeliefert sah: einem Eisbären, der sich in die Nähe der Stadt verlaufen hatte, schnell seinen Irrtum erkannte und sich davonmachte, allerdings von Niels gesichtet wurde, der dem Tier schon folgte, tagsüber und nachts, in seinen Träumen, und wieder vergingen Tage, Wochen, bald Monate, und der Wunsch, dieses Geschöpf zu erbeuten, wurde zum Lebensinhalt und das eigene Leben diktiert von diesem Zwang; erbeutet, diesmal der Jäger.
    In Wahrheit, dachte Inger in diesen einsamen Tagen, ist jedes Jagdverhältnis auch ein Liebesverhältnis, und sie sah weg, als Niels nach einem halben Jahr ohne Beute, dafür abgemagert, krank und schwach nach Hause kam, die Hälfte der Ausrüstung war entweder verloren- oder kaputtgegangen, und auch er schien beschädigt. Er rührte das Gewehr nicht wieder an, das Spähen überließ er anderen, und er meldete sich, als er wieder bei Kräften war, für die Sozialhilfe an, vom Jagen sprach er nie wieder. Vielleicht hatte sein Jagdinstinkt auch die Richtung geändert, er konzentrierte sich nun auf die Opfer in seiner unmittelbaren Nähe, auf jene, die leicht zu fangen waren, auf das Kind und seine Mutter, und jeder Schlag musste zu einem Folgeschlag führen, da sie sich noch immer rühren konnten, noch nicht erlegt waren –
    bis sich ein Konkurrent von außen einmischte, der Däne Mikkel Poulsen, der das Töten zum Zeitvertreib betrieb, wenn er mit seinem Motorboot ziellos durch den

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