Anatomie Einer Nacht
eines Nachmittags das Haus verließ, um eine Packung Milch zu kaufen, und auf dem Heimweg, es dämmerte bereits und das, was sich Stadt nannte, lag vollkommen im Schatten, ein Auto näher kam, aus dem zwei Personen stiegen, Kristina und ein Kollege, dessen Namen er nicht aussprechen konnte.
Während sie sich verabschiedeten, sie reichten einander nur die Hand, dennoch lag in dieser Geste eine Vertrautheit, die er sich mühsam hatte aneignen müssen, erkannte er, dass ihn die Einsamkeit, die er geglaubt hatte abgehängt zu haben, einholte und dass ihm nichts anderes übrigblieb, als sich ihr zu ergeben oder weiterzuziehen, in ein anderes Leben, in eine andere Welt.
Er lernte Malin, seine Tochter, nie wirklich kennen, er ließ sie zurück, als sie vier Jahre alt war und sie gleich viele dänische Wörter kannten.
Heute wäre sie um die dreißig, denkt Keyi und ertappt sich bei der Erkenntnis, dass sie zugleich mit seiner Abreise aus Dänemark für ihn aufhörte zu existieren.
Keyi schließt das Fenster des Waschhauses hinter sich. Die Finsternis verschluckt ihn, mit einem Mal ist es schwarz vor seinen Augen, und er ist gezwungen, seine Flucht zu unterbrechen, bis sie sich mit der Dunkelheit verbündet haben. Die Schwärze Amarâqs ist nicht feindlich, aber mächtig, sie hat es nicht nötig, sich anzuschleichen, sondern zeigt sich in all ihrer Undurchdringlichkeit, dabei lässt sie eine Existenz zu, mit ihr und in ihr, die lediglich möglich ist, wenn man sich ihr bedingungslos ergibt.
Die Fotografie liegt auf der flachen Hand wie aufgebahrt. Sie zeigt einen lächelnden Mann, dessen trauriger Blick durch eine ihm ins Gesicht fallende Strähne kaschiert wird. An jenem Tag, nur wenige Stunden bevor dieses Bild aufgenommen wurde, hatte Janus Uuttuaq zum letzten Mal versucht, seine Freundin davon zu überzeugen, weder das Kind abzutreiben noch ihn zu verlassen.
In dem Moment, als ihm klar wurde, dass er beide verlieren würde, überkam ihn ein Schmerz, den er glaubte, niemals ertragen zu können, und er stieg die Stufen hinab, vorbei am Wohnzimmer, wo sein Vater Kuupik Kirchenlieder auf der Orgel übte, nicht bloß das richtige Spielen der Noten, sondern auch das kirchengerechte Wippen des Kopfes, das feierliche Heben und Senken der Arme –
er schlüpfte in eine dünne Windjacke und in Sportschuhe mit reflektierenden Sicherheitsstreifen, während im Nebenraum seine Mutter Kiiki beim Käfig des Zwerghamsters, der sich bis nach Amarâq verirrt hatte, Tausen-de Meilen von den Goldähren der Dschungarei, seiner eigentlichen Heimat, entfernt, knielange Strümpfe aus den Resten des aufgetrennten Pullovers seiner Schwester strickte –
er ignorierte seinen um Aufmerksamkeit bettelnden Neffen, der, seit er stehen und laufen konnte, immer um die Beine seines Onkels strich, als wäre Zuneigung unbedingt an Nähe gebunden –
und Janus ging am Spital und an der Schule vorbei bis zum Fjord. An der Bucht blieb er stehen.
Magnus folgte ihm. Er versteckte sich hinter einem gestrandeten Ruderboot und beobachtete, wie Janus ins Wasser stieg, den Wellen entgegenging, bis er nicht mehr zu sehen war.
Beobachtung ist kein Zeitvertreib in Amarâq, Beobachtung ist die erste und wichtigste Lektion im Leben eines Kindes: Entwickelt es das Talent zu sehen, entwickelt es die Fähigkeit zu verstehen.
Erst Tage später verstand Magnus, was er gesehen hatte, doch er hütete sich, Kiiki davon zu erzählen.
Zunehmend spürte Inger Heimweh, sie begann sich Vorwürfe zu machen, dass sie ihre Familie verlassen hatte, und sie wünschte sich, ihr Vater und ihre drei Brüder würden sie finden –
sie hinterließ Spuren, schrieb Briefe, die sie nie beendete, sie näherte sich dem Telefon so viele Male, dass es ihr schien, es würde sie auslachen, wann immer sie den Hörer sinken ließ. Frühmorgens ging sie in die Berge, wenn die Steine noch mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren, jene Steine, die auf dem Plateau standen, als wären sie auf dem Sprung, als hielten sie an diesem Ort nur eine kurze Rast und würden jeden Moment weiterrollen, sei es bergauf, sei es bergab, vielleicht, dachte Inger, ist es untertrieben von Steinen zu sprechen, vielleicht sollte man sie Steinwesen nennen, denn sie sind so groß wie sie, aber breiter und dicker, haben verschiedene Formen angenommen und tummeln sich in der Nähe des Gipfels, als wäre dies ihr Dorfplatz, seltsam sind sie, diese Wesen, sie bestehen aus Stein und doch scheinen sie zu atmen,
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