Anatomie Einer Nacht
reichte, steckte er ein, ohne sie zu lesen, denn das Alphabet wurde, je älter er wurde, je weniger er übte, mehr und mehr zu einem Rätsel. Am Abend berichtete er Kristina, er engagiere sich für seine Heimat wie alle anderen, ihr waren solche Dinge, das wusste er, wichtig. Gut, antwortete sie und nickte zustimmend, müsste sie nicht arbeiten, würde sie mit ihm demonstrieren, und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Wir könnten doch zurück nach Grönland fliegen, schlug sie beiläufig vor, ein paar Freunde versammeln sich in Narsaq, sie wollen zelten, musizieren und diskutieren, zwei Wochen lang, wir werden über Selbstbestimmung sprechen, über die Unabhängigkeit, sagte sie, wir werden uns mit der Welt auseinandersetzen, mit Grönland und der Welt und einer besseren Zukunft, meinte sie, und als sie Keyis Blick auffing, korrigierte sie sich und sagte, sie, nicht wir, und er sagte, sicher, fliegen wir, und sprach sie nie wieder darauf an. Ein Jahr später sollte in den Zeitungen die Schlagzeile zu lesen sein, Grönland erhalte eine partielle Selbständigkeit.
Durch Kristinas Vermittlung fand Keyi Arbeit im Grönland-Haus als Schlüsselwart, dort gab man ihm den Spitznamen Keyi, von key , Schlüssel, doch schon nach einem Monat wurde er entlassen, weil er sich nicht an die vereinbarten Zeiten halten konnte, immer dann auftauchte, wann es ihm passte, und verschwand, wenn er es für richtig hielt, Arbeit erfüllte für ihn schon damals einen anderen Zweck.
Keyi biegt ab, in die Andeutung einer Seitengasse, er versucht, sich an seinen richtigen Namen zu erinnern; er erinnert sich, aber er spricht ihn nicht aus.
Vielleicht, denkt Mikileraq, während sie Maja auf die Stirn küsst, hat das Mädchen schon vergessen, wie seine wirkliche Mutter aussieht, den Klang ihrer Stimme, ihren Geruch, vielleicht hat es all dies bereits ersetzt durch sie, die Tante, und Maja tat dies unbewusst, es geschah ganz einfach stückchenweise, stundenweise. Während sie dies denkt und hofft, während sie ihre Nichte zudeckt und diese die Decke wieder von sich strampelt, bewegt sie sich in einer Erinnerung, die es nicht gibt: in einer Erinnerung, zu der es nicht kommen konnte, da sie das Kind, das sie als Sechzehnjährige zur Welt gebracht hat, sofort nach der Geburt weggegeben hat. Man versicherte ihr, eine Pflegefamilie würde sich seiner annehmen, sie hat diese Angabe nie überprüft, sie flog nach Nuuk, um die Schule zu beenden, danach in die USA und nach Dänemark, um zu studieren, und erst vor einem Jahr hat es sie in ihre Heimat zurückverschlagen, als man ihr eine Stelle als Lehrerin anbot.
Die ersten Schritte führten sie gleich an jenem Krankenhaus vorbei, in dem sie das Baby, ihren Sohn, wie man ihr damals freudestrahlend mitteilte, ein Sohn, ein Sohn!, bekommen, aber sich geweigert hat, es anzusehen, aber warum, fragte Justine sie fassungslos, es ist doch ein Sohn? Das gelbe Gebäude mit dem roten Ziegeldach und der breiten Eingangstreppe hat sich nicht verändert, noch immer bilden sich auf den Stufen Grüppchen, die ihre Krankheiten besprechen, manche auf eine Krücke gestützt, manche im Rollstuhl und viele in ihren Jogginghosen, Krankenkluft.
Wenige Tage nach Schulbeginn fing Mikileraq an, sich nach ihrem Sohn zu erkundigen, sie forschte behutsam, sie wollte kein Gerede, die wenigen, die damals dabei gewesen waren, konnten sich zwar erinnern, sprachen aber nicht mehr darüber, und sie fand nur mit Mühe heraus, dass er nicht von einer Familie adoptiert worden, sondern im Wohlfahrtssystem verschwunden war: Er kam in das Waisenhaus in Amarâq, wuchs dort auf, als Jugendlicher aber lief er weg und kam nie mehr zurück.
Vielleicht, denkt Mikileraq, während sie Majas Haare streichelt, waren es gute Jahre danach, vielleicht, denkt sie, erhielt er eine Ausbildung, fand Arbeit und kehrte Amarâq den Rücken, vielleicht entkam er dem Ende der Welt; sie hofft, sie weiß es, vergeblich.
3 Das öffentliche Waschhaus, ein rotes Blockhaus mit schwarzem Satteldach, besteht aus einer Waschküche mit Waschmaschine und Trockner, einem Duschraum, einem Essraum mit Küche, zwei Toiletten und einem Eingangsbereich, in dem im Winter die Schuhe ausgezogen und an die Wand gestellt werden. Die Räume sind niedrig, die Fenster klein und quadratisch, und der Boden ist mit Linoleum ausgelegt. An den Decken befinden sich Glühbirnen hinter Glas, die Vorhänge sind grün gestreift, aber nicht lang genug, um das ganze Fenster zu verhängen. Sie
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