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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Fjord tuckerte und wahllos in die Wellen schoss, auf alles, das entfernt einem Lebewesen ähnelte, der an der Schule gebrochenes Englisch unterrichtete, in gebrochenem Dänisch, denn seine Zunge hatte jeden Halt verloren, in dieser Kältewüste, die sich Amarâq nannte. Dieser Mann schnappte sich Inger, und sie schnappte nach ihm, ließ sich von ihm aus einem brüchigen Leben ziehen. Und sie verglichen die Fragmente, legten sie aneinander, Kante an Kante, und stellten fest, dass manche Teile einander ergänzten, und jene, die sich ineinander verkeilten, einander abstießen, schnitten sie zurecht, feilten die Ecken ab, und Inger verwandelte sich von der Frau eines Jägers in die Frau eines Lehrers. Und weil sie ihm in gebrochenem Dänisch antworten konnte, und weil er ihr in gebrochenem Grönländisch antworten konnte, glaubte sie, er sei das, was man die große Liebe nennt, eine Liebe, die nie enden würde, zeitlos, raumlos, im Grunde eine Endstation, denn nach einer Liebe wie dieser konnte keine andere folgen, sie wäre unübertroffen und unübertreffbar, sie wäre ein Anfang, zugleich ein Ende.
    Inger beschließt nachzusehen, als keine weiteren Laute aus dem Duschraum kommen. Vorsichtig öffnet sie die Tür und tastet nach dem Lichtschalter. Es ist ein kleiner verfliester Raum, die Dusche selbst ist ein Schlauch an einem Haken, warmes Wasser kommt aus dem Hahn, nicht wie bei ihr vom Herd. Die Fliesen, einst weiß, sind nun gelblich und die Ecken zum Teil herausgebrochen. Der Spiegel über dem Waschbecken ist verschmiert mit Zahnpasta und Seife. Das Fenster über dem Klo steht einen Spaltbreit offen, eine kühle Brise strömt herein. Ehe sie es schließt, späht sie hinaus, obwohl sie weiß, dass sie nichts sehen wird, aber sie glaubt, Schritte in der Dunkelheit zu hören, die sich eilig entfernen, ein schnelles Tapsen von Sohlen auf steinigem Grund, das leise Schmatzen auf der feuchten Erde.
    Sie dreht sich um und kehrt zurück in den Waschraum, noch eine Stunde und zwanzig Minuten, die gelben Ziffern leuchten auf der Anzeige der Waschmaschine. Dass ein Mensch für einen anderen seine Beliebigkeit verliert , dieser Satzanfang geistert in ihrem Kopf, schon seit Tagen versucht sie, ihn zu beenden, doch sie konnte sich bis jetzt für kein Ende entscheiden –
    als es sich freiwillig meldet: grenzt an ein Wunder .
    Unbewusst schlägt Keyi den langen Weg in die Berge ein, er hätte den direkten wählen können, stattdessen nimmt er einen Umweg, vorbei am Fußballfeld, bergauf zum Kleinen Kaufmann , vielleicht wollte er den Laden noch ein Mal sehen, dieses große Haus, das im Inneren so klein ist, dass das Angebot unmöglich mehr als das Allernötigste umfassen kann, und nicht einmal das. Von außen sieht es aus wie ein weißer Bunker mit schiefem Dach, Balkon und einer Treppe, die zu einer kleinen Tür führt, die provisorisch zusammengezimmert ist. Sie ist wie immer fest verschlossen, man weiß nie, wann das Geschäft geöffnet hat, selten sieht man durch die Eingangsluke ins Ladeninnere, nur an sehr sonnigen Sommertagen.
    Vom Kleinen Kaufmann führt ein schmaler Pfad den Berg hinauf zu einer Aussichtsplattform. Von hier aus, dem Treffpunkt der Jäger und Kinder, die abends bis zur Dunkelheit und bis spät in die Nacht hinein auf der Straße Amarâqs spielen, weil es für sie zu Hause keinen Platz gibt, sieht Keyi den Heliport, den einzigen dunkelgelb beleuchteten Punkt nahe dem Fjord, ein Scheinwerfer strahlt auf den Hubschrauber. Nur ein Mal flog er von hier ab, als er Kristina nach Dänemark folgte, nur ein Mal landete er hier, bei seiner Rückkehr aus Kopenhagen.
    Die dänische Landschaft hüllte ihn ein, die dänische Dämmerung, die ewig zu währen schien. Die Natur, die sich fleckenweise meldete, war arrangiert, sie war lediglich Schmuck, die Häuser, die eng aneinandergedrängt die Straßen bevölkerten, hatten keine Aussicht, es waren Häuser zum Wohnen und Schlafen, zwar groß, schön eingerichtet, aber ohne Verbindung zum Leben, so sah es Keyi, während auf den Straßen für die Unabhängigkeit Grönlands demonstriert wurde, Protestmärsche, manche klein, manche größer, die Gruppen gemischt, dänisch und grönländisch, in ihrer Tracht aber einheitlich, Hippies, Linke, zaghaft Bürgerliche mit Megaphonen und Plakaten, und Keyi marschierte mit, weil er den gleichen Weg zum Supermarkt nehmen wollte, buchstäblich Mitläufer, und als er verstand, wonach sie riefen, rief er mit, die Flugblätter, die man ihm

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